Baby 40 Stunden allein im Bett: Amtsleiter Manfred Stankat spricht von „massivem Fehlverhalten“ eines Mitarbeiters

Bad Segeberg. Manfred Stankat, der Leiter des Segeberger Jugendamtes, sagt es ganz offen. „Es ist nur einem Glücksumstand zu verdanken, dass für das Baby Schlimmeres verhindert wurde.“ Im Fall der 30-jährigen Segeberger Mutter, die ihr 17 Monate altes Kleinkind über 40 Stunden allein in ihrem Gitterbettchen liegen ließ, muss der Jugendamtsleiter am Donnerstag das massive Fehlverhalten des zuständigen Jugendamt-Mitarbeiters einräumen. „Unsere internen Ermittlungen haben ergeben, dass er die Situation fatal fehleingeschätzt hat. Das Leiden des Babys wurde unnötig verlängert.“ Der junge Sozialarbeiter habe dienstrechtliche Konsequenzen zu erwarten.

Wieder versagt das Segeberger Kreisjugendamt. Wie damals, im Sommer 2012, als das sogenannte Kellerkind bundesweit Schlagzeilen machte, ein dreijähriger Junge, der verdreckt, vernachlässigt und viel zu spät aus einem Keller befreit wurde. Damals musste der Amtsleiter Georg Hoffmann gehen. Stellvertreter Stankat übernahm. „Wir müssen jetzt wieder durch die Hölle der Kritik gehen“, sagt Stankat. Da der aktuelle Fall anderes sei als der des Kellerkindes, hofft Stankat auf eine sachliche Wertung. Und dass die Bemühungen des Neuaufbaus des Amtes seit dem Kellerkind-Fall nicht pauschal für gescheitert erklärt werden. „Wir haben es hier mit individuellem Versagen zu tun. Als Vorgesetzter bin ich verantwortlich für die Folgen. Aber ich sehe nicht, dass die Struktur unseres Amtes zum Versagen eines Mitarbeiters beigetragen hat.“

Das Segeberger Jugendamt kam, horchte und ging wieder

Stankat setzt auf völlige Transparenz. Bereitwillig nennt er alle Fakten, bis auf die, die er aus dienstrechtlichen Gründen verschweigen muss. Danach hat sich das Martyrium des kleinen Mädchens in der Erdgeschoss-Wohnung eines Mehrfamilienhauses in Segeberg/Klein-Niendorf so ergeben. Die Mutter, eine 30-jährige alleinerziehende Frau, hatte am Dienstagabend, 18.November, ihre Tochter in ein Gitterbett gelegt. Danach war sie nach St.Pauli aufgebrochen, um Freunde zu treffen. Weil sie dort angeblich Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, habe sie nicht zurückkehren können, sagte sie bei der Polizei aus. Schutzbehauptung oder Notfall? Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln.

Das Kind weinte sich hungrig und durstig in den Schlaf. Eine Nachbarin hörte es über Stunden immer wieder schreien und weinen. Am Mittwoch rief die Nachbarin im Amt an und meldete ihre Eindrücke. „Es war ein Hinweis auf eine allgemein ungünstige Lage. Es wurde nicht gesagt, dass es ein Notfall ist, dass das Kind allein zu Hause ist“, sagt Stankat. Trotzdem handelte der Mitarbeiter schon hier fahrlässig. Der junge und noch unerfahrene Sozialarbeiter, der laut Stankat gleichwohl sämtliche seit dem Kellerkind-Fall angesetzten Kinderschutzfortbildungen mitgemacht und das neue Alarmierungssystem des Jugendamtes mit aufgebaut habe, entschied ganz alleine, dass der Hinweis der Nachbarin keine Brisanz habe. „Eine schwere Fehleinschätzung. Es gibt klare Verhaltensregeln für diese Meldungen“, sagt Stankat. Meldebogen müssten ausgefüllt werden, danach eine Risikoeinschätzung mit allen Kollegen erfolgen und eine Abwägung über Handlungsoptionen. Stankat: „Es ist unsere dienstliche Pflicht: Wir müssen das Kind schützen!“

Stattdessen bleibt das kleine Mädchen einen weiteren Tag hilflos in seinem Bettchen liegen. Am Donnerstagmorgen, 20. November, meldet sich die Nachbarin erneut. Dieses Mal mit einem eindeutigen Notruf. „Eine andere Mitarbeiterin nahm den Anruf entgegen und handelte sofort und richtig“, sagt Stankat. Zwei Jugendamtsmitarbeiter fuhren gegen 12.30 Uhr zur Adresse der Frau nach Klein-Niendorf. Sie lauschten an der Tür, hörten kein Weinen und gingen wieder. „Sie trommelten nicht gegen die Tür, sie liefen nicht ums Haus und schauten in die Fenster, die redeten nicht mit Nachbarn. Ein Fehlverhalten, das auf der Fehleinschätzung der Lage beruhte. Wenn man die Dinge nicht ahnt, sieht man sie auch nicht“, sagt Stankat.

Die Hartnäckigkeit der Nachbarin rettet dem Kind das Leben

Gegen 15.30 Uhr platzte der Nachbarin der Kragen. Sie lief zum Polizeirevier um die Ecke. Und jetzt ging alles ganz schnell. Die Feuerwehr hebelte ein Fenster auf und befreite das dehydrierte Kind. Es war die Rettung vor dem Tod. Denn von der Mutter fehlte immer noch jede Spur.

Das Kind wurde im Krankenhaus in Segeberg aufgepäppelt und danach in eine Pflegefamilie gebracht. „Es geht dem Mädchen jetzt wirklich gut. Es ist lustig und aufgeweckt. Medizinisch gesehen scheint alles in Ordnung“, sagt Stankat. Die Mutter sei noch nie beim Jugendamt auffällig gewesen – anders als die vom Jugendamt betreuten Eltern des Kellerkindes 2012. „Sie hat ihre Tochter nicht vernachlässigt, das Kind ist gut genährt, und auch motorisch und in der übrigen Entwicklung scheint sie gut gefördert worden zu sein.“

Als Behörde sei man nun für Mutter und Kind da. „Wir müssen klären, ob die Mutter in einer Zwangslage war oder ein Blackout hatte und Hilfe benötigt“, sagt Stankat. Von den Antworten auf die vielen offenen Fragen wird abhängen, ob Mutter und Tochter wieder zusammengeführt werden.

Die Landespolitik ist durch das erneute Versagen im Segeberg Jugendamt alarmiert. Die Norderstedter Landtagsabgeordnete und sozialpolitische Sprecherin der CDU, Katja Rathje-Hoffmann, spart nicht mit Kritik. „Es ist unverständlich, wie die Mitarbeiter derart falsch und unbeherzt handeln konnten. Die Alarmierung durch die Nachbarin wäre ausreichend gewesen, um als Eingriffsbehörde die Tür der Wohnung öffnen zu lassen.“ Sie begrüßt die maximale Offenheit des Jugendamtsleiters bei der Aufklärung. „Dennoch muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er seinen Mitarbeitern anscheinend nicht ausreichend eingeschärft hat, dass man lieber einmal zu viel als einmal zu wenig tätig werden sollte.“ In der Sitzung des Sozialausschuss des Landtages am Donnerstagabend war der Segeberger Fall Thema. Die SPD hatte per Antrag um Berichterstattung durch Vertreter des Kreises gebeten.

Manfred Stankat hatte am Donnerstag ein Gespräch mit Vertretern freier Träger aus der Jugendhilfe. „Wir stellten uns selbstkritisch der Frage: Ist unser System zum Kinderschutz im Kreis Segeberg krank? Wir denken nein. Es ist besser als vor zwei Jahren.“