25 Jahre Mauerfall: Unter dem Rathaus baute die Stadt Norderstedt in Zeiten des Kalten Krieges einen Schutzraum, in dem 1200 Menschen bei einem Overkill Zuflucht gefunden hätten

Ralf Bohmbach legt langsam den Drehschalter um. Lange muss er nicht warten, bis in den Rohrleitungen in Boden und Wand ein Rumoren beginnt. Die Pumpe ist angesprungen, Wasser rauscht hindurch. Verschmutztes Wasser von 1200 Menschen, die sich waschen und aufs Klo gehen, könnte die Anlage entsorgen. Auch die Lüftung ist noch intakt. Und das Stromaggregat. Ein paar Jahrzehnte können Technik nichts anhaben, die im Atomkrieg funktionieren sollte. „Drei Wochen sollten es die Menschen hier im Ernstfall aushalten“, sagt Bohmbach.

Schutzraum nannten die Behörden die hermetisch abgeriegelte Fläche, der in der Mitte Norderstedts das Überleben beim Overkill sichern sollte – ohne dass die Insassen wussten, ob sie nach den drei Wochen oben überleben könnten. Noch immer deuten viele Relikte aus dem Kalten Krieg darauf hin, dass die Tiefgarage am Rathaus in den 80er-Jahren nicht nur für Autos gedacht war, sondern als Zuflucht, wenn in Deutschland der Krieg mit Nuklearwaffen getobt hätte: Schilder, Lüftungsventile, tonnenschwere Türen.

„Beschuss- und strahlungssicher“ – so beschreibt Bohmbach das Konzept des einzigen Schutzraums, der den Norderstedter im Ernstfall offen gestanden hätte. Der Quickborner Bohmbach und seine Kollegen vom Norderstedter Ortsverband des Technischen Hilfswerks (THW) haben regelmäßig den Betrieb geübt. Ohne Komparsen, ohne 1200 Liegen und ohne Küchen, aber mit allen Utensilien, die das Überleben sichern sollten: Steine zum strahlungssicheren Verschluss von Lüftungsschächten und Funkgeräten für die Kommunikation nach draußen.

Der professionell gefälschte Brief trug den Briefkopf der Stadt Norderstedt

Der zusammengelegte, fast sechs Meter lange Funkmast liegt einsatzbereit in einem Nebenraum. Er wäre in einem Sockel befestigt worden, der immer noch 50 Zentimeter unter einem Blumenbeet am Kleinen Restaurant bereit liegt. Hier hätte der Mast zwischen Rathaus und den anderen Gebäuden von Norderstedt-Mitte in den Himmel geragt. Oder zwischen den Resten, die der Krieg von den Häusern übrig gelassen hätte.

Die Geschichte der Notunterkunft für den Krisen- und Kriegsfall begann 1979, als das Projekt zum ersten Mal in den Bebauungsplänen der Stadt auftauchte und eine städtische Projektgruppe Mindestgröße und Ausstattung des Schutzraums festlegte, der im Frieden als Tiefgarage genutzt werden sollte. Am 22. Oktober 1979 stellte die Stadt einen Antrag auf Zuschüsse beim Bund.

Der geplante Schutzraum bot der Stadt die Chance, günstig eine Tiefgarage zu finanzieren. Das Projekt wurde mit 977.000 D-Mark gefördert. 400.000 D-Mark musste Norderstedt aufbringen und weitere 7000 für den jährlichen Unterhalt, den das THW erhielt. Dafür stellten die ehrenamtlichen Helfer sicher, dass Türen, Lüftung und Wasserversorgung funktionierten. Am 2. Oktober 1984 wurde das Kombi-Projekt eröffnet.

Im Büro des Norderstedter Amtes für Katastrophenschutzes liegen noch Pläne mit einer Ausdehnung von mehreren Quadratmetern. Auf ihnen ist präzise verzeichnet, wie die 1200 Liegen aufgestellt worden wären, in welchen Ecke die Küche gestanden hätte und wo die Krankenstation aufgebaut worden wäre.

Amtschef Joachim Seyferth hat auch Unterlagen über eine Aktion eines Unbekannten gefunden, der offensichtlich am Nutzen des Projekts zweifelte. Viele Norderstedter fanden im Dezember 1982 ein Schreiben mit dem Absender „Stadtbauamt, Abt. Schutzraumverwaltung“ in ihrem Briefkasten. Der professionell gefälschte Brief trug den Briefkopf der Stadt Norderstedt.

„Sie haben die Chance, einen der noch verbleibenden 147 Schutzraumplätze für sich reservieren zu lassen“, heißt es in dem Brief an die „Lieben Mitbürgerinnen, lieben Mitbürger“. In dem Umschlag befand sich ein Reservierungscoupon, der persönlich im Bauamt abgegeben werden sollte. „Es handelt sich um einen strahlungsfesten Schutzraum, gebaut zu unserer und zu Ihrer Sicherheit!“ schrieb der angebliche „Sachbearbeiter Herr Regen“.

Im Rathaus konnte man über diese Briefe nicht lachen. Stadtbaurat Jürgen Meßfeldt bezeichnete die Aktion als „zutiefst unmoralisch“. Mehrere Bürger hatten den Brief ernst genommen und bestanden auf eine Reservierung. Besonders empörte den Stadtrat, dass mit der Zahl 147 suggeriert worden sei, der Rest der Plätze werde durch Mitarbeiter des Rathauses belegt. „Sollte es einmal zu einem solchen Ernstfall kommen, befinden diese sich sicherlich nicht im Rathaus, sondern bei ihren Familien“, sagte Meßfeldt damals dem Hamburger Abendblatt. Die Norderstedter Kripo ermittelt wegen Urkundenfälschung, allerdings ohne Erfolg.

Ralf Bohmbach und seine THW-Kollegen haben bis zum Jahr 2005 dafür gesorgt, dass die Tiefgarage sich binnen weniger Tage in einen Schutzraum verwandeln konnte. Noch heute schaut er ab und zu in den vielen Nebenräumen nach, was von der Ausrüstung noch übrig ist. Einbrecher haben hier kaum eine Chance, manche Türen wiegen bis zu zwei Tonnen.

Die Norderstedter wären durch den Eingang in Höhe des Kleinen Restaurants an der Rathausallee in den Schutzraum gegangen und dort gezählt worden. Der Weg führt um eine Ecke, damit keine Strahlung direkt in den Schutzraum eindringen konnte, sondern von den dicken weißen Wänden abgehalten worden wäre. Am Eingang sind noch die Scharniere zu sehen, an denen die schwere Tür hing, die selbst der Druckwelle eines schweren Explosion standhalten sollte. Der Weg führt an diversen Entlüftungsklappen vorbei. Pumpen hätten einen ständigen Überdruck von einem etwa drei Millibar erzeugt, um das Eindringen radioaktiv versuchter Luft zu verhindern.

Ein simples Autoradio sollte den Empfang von Sendern sicherstellen

In der einstigen Schutzraumwarte liegen noch sämtliche Akten mit den Angaben zur Technik und mit den Checklisten für den Betrieb. „Drei bis vier Tage hätten wir gebraucht, um mit 15 bis 20 Helfern den Raum herzurichten“, sagt Bohmbach, der seit 1987 dem Schutzraumbetriebsdienst angehörte. Er geht davon aus, dass 1200 Menschen für etwa drei Wochen komplett von der Welt abgeschirmt gelebt hätten. „Ob das wirklich geklappt hätte, ist eine interessante Frage“, sagt der THW-Helfer.

Ein grünes Kabel führt aus der Warte nach draußen und sollte einst ein Funkgerät mit dem Antennenmast verbinden. Das THW-Team hätte sich von hier aus mit Kollegen in anderen Schutzräumen unterhalten können – sofern sie noch am Leben waren. Ein simples Autoradio sollte den Empfang von Sendern sicherstellen, die trotz Krise oder Krieg noch intakt waren.

Im großen Raum, in dem heute die Autos stehen, hätten die Menschen auf Liegen auf das Ende des Krieges gewartet. „Die Liegen hätte man organisieren müssen“, sagt Bohmbach. Ebenso wie die Lebensmittel. Die Krankenräume hätte das THW mit Planen abgetrennt. An der Decke hängen immer noch mehrere Orginallautsprecher für Durchsagen und Lampen aus den 80er-Jahren.

In einem weiteren Nebenraum steht noch eine alte Waschrinne. Das Wasser in der Zisterne nebenan hätte das THW bereits vor dem militärischen Schlagabtausch abgezapft, um eine radioaktive Verseuchung zu vermeiden. „21.3.1988“ steht an einem Zulauf. Damals wurde das Tank bei einer Übung zum letzten Mal mit 22.000 Litern gefüllt. Mit Wasser kennt sich Bohmbach aus: Im zivilen Leben arbeitet er auf Kreuzfahrtschiffen und wartet die Trinkwasseraufbereitungsanlagen.

„Im Belegungsfall GT schließen“ steht immer noch auf vielen Schildern, die in der Tiefgarage an den Wänden hängen. GT steht für das weiße, elf Tonnen schwere Gas-Tor, das vor den Eingang geschoben worden wäre, der heute als Zu- und Abfahrt für die Autos dient. Mindestens fünf Mann sind nötig, um das Tor zu bewegen und gasdicht zu verriegeln. Hierfür liegen die 55er-Maulschlüssel in einem Werkstattraum bereit. Den Strom hätte ein Dieselaggregat geliefert, das noch heute genutzt werden kann, um das Rathaus mit Strom zu versorgen. Wäre im verriegelten Schutzraum das Aggregat ausgefallen, hätten die Insassen Muskelkraft einsetzen müssen, damit die Lichter weiter brennen. Bohmbach setzt eine Kurbel an, dreht und erzeugt mit einem Generator Strom. Gleichzeitig sorgt die Konstruktion dafür, dass bei einem Ausfall der Belüftung die Luft in Bewegung bleibt. 15 Kubikmeter pro Stunde müssen es sein, damit 1200 Menschen überleben können.

Neben dem Generator steht der Originalschaltschrank mit CO2-Anzeige. Zu viel CO2 in der Atemluft konnten den Tod bedeuten. Im Nebenraum hängen zwei Thermometer an der Wand, die die Temperatur der hineingepumpten Außenluft gemessen hätten. „Bei 80 Grad wäre Schluss gewesen“, sagt Bohmbach. „Das ist für die Menschen viel zu heiß.“

In einem weiteren Raum stehen die Lüftungsrohre und -pumpen. Gefederte Befestigungen sollen verhindern, dass sie bei Erschütterungen zerbrechen. Um die Luft vor dem Eintritt in den Schutzraum zu reinigen, wurde sie durch Aktivkohlefilter geleitet.

Ralf Bohmbach ist überzeugt, dass er damals in den Schutzraum gegangen wäre, auch wenn er nicht gewusst hätte, wie drei Wochen später die Welt draußen aussehen könnte. „Wir haben den Dienst für die Stadt getan“, sagt er. Lehrgänge für die Arbeit und das Leben im Schutzraum musste er nie besuchen. Auch habe sich niemand Gedanken gemacht, wer unter den 1200 Menschen für Ordnung gesorgt hätte.

Demnächst will Bohmbach gemeinsam mit THW-Kollegen wieder die schweren Türen der Tiefgarage öffnen. Dann werden sie Geräte, Schilder und andere Utensilien demontieren, um sie sicher aufzubewahren.

Seyferth geht davon aus, dass die Tiefgarage heute kaum noch als Schutzraum zu nutzen wäre. „Aus heutiger Sinn macht das keinen Sinn“ , sagt er. Er bereitet sich auf andere Szenarien als den Atomschlag vor, zum Beispiel schwere Unwetter oder flächendeckende Ausfälle der Infrastruktur. Für die Unterbringung und Versorgung vieler Menschen hält er Turnhallen oder die „TriBühne“ für geeignet. „In den Schulen haben wir wenigstens ein Mensa, um die Menschen zu versorgen.“