25 Jahre Mauerfall: Die Bramstedter Hanna und Jan Simon halfen im Jahr 1963 Menschen aus Ost-Berlin bei der Flucht in den Westen. Sie mussten stets damit rechnen, als politische Gefangene in der DDR inhaftiert zu werden

Nein, niemals habe die Gruppe Geld für die Fluchthilfe erhalten. „Das hätte uns empört“, sagt Hanna Simon. „Es ist kein Pfennig geflossen.“ Getrennte Paare und Familien aus Ost- und Westberlin trotz Mauer und Schießbefehl zusammenzuführen und das Glück der Menschen zu sehen – das war der jungen Medizinstudentin und ihren Freunden Lohn genug. Ihren alten Pass hat die Bramstedterin aufbewahrt. Er gehörte Anfang der 60er-Jahren zu den wichtigsten Utensilien der Fluchthelfer. Noch wichtiger war das alte Foto, das die junge Studentin Hanna Simon zeigt und mehr als zehn Frauen aus Ost-Berlin den Weg in die Freiheit ermöglicht hat. Hanna Simon erzählt zum ersten Mal in der Öffentlichkeit die Geschichte der Studentengruppe im geteilten Berlin. Die großen Momente der Freude, aber auch die Erinnerung an die Gefahren bewegen sie bis heute.

Im Alter von 20 Jahren zog die junge Frau 1962 aus ihrer Heimat Osnabrück nach Berlin, um an der Freien Universität Medizin zu studieren. Hanna war politisch interessiert, ging als Gasthörerin zu Veranstaltungen der Politikwissenschaftler und hörte dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt zu, als er zum 1. Mai an der Berliner Mauer sprach. Auf der anderen Seite konnte Hanna die aufgepflanzten Bajonette der Grenzsoldaten sehen. Ihr Vater war Pfarrer. Er hatte drei Schwestern in der DDR, die er jedes Jahr besuchte. „Seine Kollegen hatten kein leichtes Leben“, sagt Hanna Simon.

Nicht einmal ein Jahr war es her, dass die DDR die Grenzen abgeriegelt hatte. 13. August 1961: Bewaffnete Truppen sicherten den Mauerbau. Mitten in einer Millionenstadt entstand ein kaum überwindbares Sperrwerk, das Straßen und Bahnlinie, sogar einige Häuser durchschnitt. Die Mauer hat Familien getrennt, 50.000 Menschen kamen nicht mehr zur Arbeit, 1000 Studenten nicht mehr zur Uni. Wer die Mauer trotzdem überwinden wollte, muss damit rechnen, erschossen zu werden.

Im Westteil der Stadt bildet sich bereits am 14. August eine erste Studentengruppe, die Kommilitonen aus dem über Nacht abgeriegelten Osten bei der Flucht half. Verfassungsschutz und die westlichen Geheimdienste wussten Bescheid, wurden aber nie über die Details informiert. Der „Spiegel“ schrieb vom „Unternehmen Reisebüro“.

„Zur Gruppe kam ich durch Jan“, berichtet Hanna Simon. Jan und Hanna waren ein Paar. Beide studierten Medizin, beide arbeiteten als Fluchthelfer. Viele Mitglieder des Netzwerks kannten sich nicht mit Namen – aus Sicherheitsgründen. Dass die Staatssicherheit der DDR bei Verhören zuschlug, hatte sich bei den Studenten schnell herumgesprochen. Einer der Anführer war als der „Schwarze“ bekannt, seinen echten Namen Burkhard Veigel kannten nur wenige.

„Hast du dir schon einmal Gedanken über Fluchthilfe gemacht?“, fragte Jan Simon eines Abends seine Freundin. Hanna brachte offenbar die Voraussetzungen für die riskante Aufgabe mit. „Man braucht gute Nerven“, fügte Jan damals hinzu. Hanna sagte Ja. „Getrennte Menschen zusammenzubringen – das war für mich das Motiv“, sagt sie heute.

Die Gruppe hatte ausgekundschaftet, dass sich nur der Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße zwischen den Stadtteilen Kreuzberg und Mitte für die „Doppelgänger-Methode“ eignete. Zumeist saßen die Grenzer drinnen. Draußen waren nur selten Kontrolleure zu sehen. Der Trick funktionierte so: Der Fluchthelfer ging mit einem gefälschten westdeutschen Pass zur Kontrolle in die unübersichtliche Baracke und meldete sich für einen Tagesbesuch in Ost-Berlin. Am besten morgens an einem Wochenende, weil dann der größte Andrang herrschte. Westdeutsche erhielten für den Besuch einen Passierschein. Bis Mitternacht mussten sie wieder ausreisen. In dem Ausweis war das Foto des Fluchthelfers eingefügt. Größe, Augenfarbe und andere Merkmale mussten mit dem Menschen übereinstimmen, mit dem die Flucht vereinbart war.

Am Ausgang traf sich der Fluchthelfer mit einem weiteren Mitglied der Gruppe, drückte ihm heimlich den gefälschten Pass und den Passierschein in die Hand und ging wieder zum Eingang, um ein zweites Mal die Einreise zu beantragen – diesmal mit den echten Papieren. „Die Gefahr bestand darin, dass mich der Grenzer wiedererkannte“, sagt Hanna Simon.

Meistens machte sie auf dem Weg zur zweiten Einreise den Umweg über die Toilette, kämmte sich die Haare anders oder setzte sich eine Mütze auf. „Beim zweiten Mal habe ich mich auch anders verhalten.“ Trat sie bei der ersten Kontrolle schüchtern und verängstigt auf, wirkte sie beim zweiten Mal offen und gesprächig.

Während der doppelten Einreise stand der „Schwarze“ Burkhard Veigel auf einem Podest auf der West-Berliner Seite und beobachtete die Baracke und die Fluchthelfer, die in Gruppen hineingingen. Wenn er sein Taschentuch zückte oder sich schnäuzte, wussten seine Freunde, dass in diesem Moment die Person mit dem falschen Pass durch die hintere Tür hinausging. Andere lenkten die Grenzposten ab, indem sie Szenen des Wiedersehens zwischen Menschen aus Ost und West vorspielten. Um möglichst nicht aufzufallen, wechselte Veigel ständig die Kleidung und versuchte, wie ein Tourist auszusehen.

Nach der Aktion trafen sich zwei Mitglieder der Gruppe in einer konspirativen Wohnung in Ost-Berlin. Dort wurde in den gefälschten Pass das Foto des Flüchtlings mit einer Ösenzange eingefügt, die damals auf den Ämtern benutzt wurde. Der Fluchthelfer erhielt sein eigenes Foto zurück und konnte mit seinem eigenen Pass und dem Passierschein ausreisen. Am besten gegen Mitternacht, weil dann besonders viele Menschen durch die Baracke zurück in den Westen gingen. Der Flüchtling reiste ebenfalls in den Westen – mit dem gefälschten Pass und dem zweiten Passierschein.

Zehn bis 15 Frauen habe sie mit diesem Trick zur Flucht in den Westen verholfen, sagt Hanna Simon. Auch Jan Simon reiste regelmäßig doppelt in die DDR ein. „Das ist nie aufgefallen.“ Mehr als 100 Menschen haben die Fluchthelfer mit dieser Methode in den Westen geholt. „Wir wollten helfen“, sagt Hanna Simon. Allen Teilnehmern sei klar gewesen, dass nur gründliche Vorbereitung und höchste Konzentration sie davor schützen konnten, festgenommen zu werden. „Alle hatten Angst davor, als politische Gefangene ins Gefängnis zu kommen.“

Unterstützung erhielten die Fluchthelfer auch von Behördenmitarbeitern aus dem Westen. Hanna erinnerte sich bei einem Besuch in ihrer Heimat an den Leiter einer Kreisverwaltung, den sie als Jugendliche flüchtig kennengelernt hatte. Abends um 21.30 Uhr klingelte sie an seiner Haustür. Kurz darauf konnten sie das Haus mit einem Stapel Blankoausweise und Originalstempeln verlassen. „Unglaublich“, sagt sie noch heute. „Das war ein Geschenk.“ 20.000 Mark beschaffte die Organisationen bei einem Kölner Unternehmer. Freunde oder die Familie hatte die Studentin nicht eingeweiht. „Sie sollten sich nicht ängstigen.“

Der Doppelgänger-Trick funktionierte bis 1963, dann gab die Gruppe ihre Aktionen an der Heinrich-Heine-Straße auf. Die Grenzer waren zunehmend misstrauisch geworden, die Kontrollen wurden strenger. Doch Fluchthelfer wollten sie bleiben und planten den großen Coup. Hanna, Jan, der „Schwarze“ und weitere Mitglieder der Gruppe trafen sich im selben Jahr zur Leipziger Messe, um mit gefälschten Pässen 100 DDR-Bürger gleichzeitig auszuschleusen.

Doch zwei Mitglieder kamen nicht in Leipzig an. Vergebens wartete die Gruppe auf sie in einem Lokal. Am späten Abend stand fest, dass sie aufgeflogen sein mussten. Die Aktion wurde abgebrochen. Die meisten Gruppenmitglieder wollten noch in der Nacht abreisen. Jan und ein Freund blieben in Leipzig, damit der überstürzte Aufbruch nicht auffiel. Auf dem Leipziger Hauptbahnhof stieg Hanna in einen Zug, der laut Aushang bis nach Hannover fahren sollte. Doch am DDR-Grenzbahnhof war die Fahrt beendet. Grenzpolizisten entdeckten die junge Frau auf dem Bahnsteig und nahmen sie fest. „Einer links, einer rechts, und dann ging es zu einem Offizier“, berichtet Hanna Simon. Sie war sicher: Die beiden Gruppenmitglieder, die abgefangen worden waren, hatten den Verhören nicht standgehalten und die Gruppe verraten. Offenbar stand ihr jetzt bevor, wovor sie sich immer gefürchtet hatte: Haft als politische Gefangene.

„Warum wollen Sie heute Nacht nach Hannover?“, herrschte sie der Offizier im Verhörraum an. Zwei Stunden stellte er im rauen Ton Fragen. Hanna behielt die Nerven, erzählte eine erdachte Geschichte und war doch sicher, dass sie in Haft landen würde. Plötzlich stand der Offizier auf, warf die Tür zu und ging. „Ich dachte, das war’s jetzt“, erinnert sich die Bramstedterin. Dann kamen zwei Grenzer, wieder einer links, einer rechts. „Dann hielt der Zug, der nach Westen fuhr, und sie stießen mich hinein.“ Hanna war frei.

Auf dem Bahnhof in Hannover traf sie Burkhard Veigel. Er hatte gehofft, dass Mitglieder der Gruppe mit diesem Transitzug eintreffen würden. Am nächsten Tag trafen Jan Simon und sein Freund ein. Schnell stand der Entschluss fest, die Fluchthilfe zu beenden. Die Risiken waren unkalkulierbar geworden. Nicht einmal mehr Transit oder in die DDR konnten Jan, Hanna und ihre Freunde fahren. Möglicherweise hatten die verhafteten Helfer Namen verraten. „Wir waren uns einig“, berichtet Hanna Simon.

Im Jahr 1967 heirateten Hanna und und der fünf Jahre ältere Jan. Sie zogen in den Westen. Sie arbeitete als Fachärztin für Psychotherapie, er ließ sich als Internist in Kaltenkirchen nieder. Beide engagierten sich als Stadtverordnete im Stadtparlament – sie für die FDP, er für die Grünen. Die Kontakte zur Gruppe bezeichnet Hanna Simon als flüchtig.

Den Mauerfall im Jahr 1989 habe sie als großes Glück erlebt, sagt Hanna Simon. Nicht nur, weil die Menschen in der DDR endlich frei waren, sondern weil die Simons es wieder wagen konnten, in den Osten Deutschlands zu reisen. Dass sie vermutlich auch schon vorher gefahrlos in die DDR hätte fahren können, erfuhr Hanna Simon erst vor wenigen Monaten durch Recherchen der Stasi-Unterlagenbehörde. Dort waren ihre Namen unbekannt. Die beiden festgesetzten Gruppenmitglieder hatten 1963 geschwiegen, nachdem den Grenzern die Ösenzange für die Pässe im Handschuhfach aufgefallen war.

Ihr Foto, das immer wieder präzise in die Blankoausweise eingefügt worden war, hat Hanna Simon erst vor einer Woche per Post erhalten. Es lag im Kondolenzbrief, den Burkhard Veigel ihr geschrieben hatte. Jan Simon war am 19. Oktober gestorben.

Literaturtipp: Wege durch die Mauer – Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West, Burkhard Veigel, Berlin 2013