25 Jahre Mauerfall: Der Norderstedter Friedhelm Thiedig erlebte die Nazi-Zeit und die frühe DDR. Er ging in den Widerstand, wurde inhaftiert und flüchtete in den Westen. Hier machte er als Wissenschaftler Karriere

Sein ganzer Besitz besteht aus zehn Ost-Mark in der Hosentasche und der Kleidung, die er am Körper trägt. Nicht viel für einen Mann, der seine Heimat verlässt und in ein fremdes Land fährt. Die Fahrkarte trägt das Datum 28. Oktober 1955. Kurz vor 8Uhr steigt Friedhelm Thiedig in Ost-Berlin im Bahnhof Friedrichstraße in die S-Bahn in Richtung Westen. Der Weg ist frei, noch steht in der geteilten Stadt keine Mauer. Minuten später kommt er im Westteil der Stadt an. Das Gefühl, das ihn damals ergriff, wird Thiedig nie vergessen. Er war frei. „Jetzt kann ich wieder Mensch sein, das war mein erster Gedanke“, sagt der 81-jährige Norderstedter.

Die Fahrkarte hat Thiedig sorgfältig aufbewahrt. Der emeritierte Geologie-Professor hat sie in seinem großen Arbeitszimmer zwischen Büchern, Akten und Dias archiviert. Auch die Briefe, die er im Gefängnis geschrieben hat, und die Rechnung, die er dort erhielt. 629 Mark sollte er zahlen, weil er an 426 von 1277 Tagen in Haft nicht arbeiten konnte. Dazu stellte die DDR zusätzlich 20 Pfennig Porto in Rechnung. Thiedig war im berüchtigten „Roten Ochsen“ in Halle inhaftiert. Der Name klingt nach einem gemütlichen Gasthaus, löste jedoch in Halle Angst und Schrecken aus. Der „Rote Ochse“ – so hieß das Gefängnis der Staatssicherheit.

Pimpf Friedhelm wollte Forscher in Afrika werden

Friedhelm Thiedig kam 1933 im Osten der Mark Brandenburg zur Welt. Vater Friedrich Wilhelm starb 1944 im Krieg in Lettland. Er hatte dem zehnjährigen Friedhelm Bücher von Karl May und dem Forschungsreisenden Sven Hedin geschenkt. Von den Berufswünschen der anderen Jungen in der Hitler-Jugend hielt Friedhelm nichts. Nicht Soldat, Pilot oder U-Bootkapitän wollte Pimpf Friedhelm werden, gab er zu Protokoll – dann lieber Forscher in Afrika oder Kapitän auf einem Bananendampfer. Die Bemerkung kam nicht gut an, Nazi-Deutschland brauchte Helden. „Damit hatte ich mich erstmals kritisch in einem totalitaristischem System geäußert“, sagt Thiedig. Zur Strafe musste er stundenlang durch den Schnee robben.

Seine erste Reise endete in Nähe von Erfurt. Mutter Margarethe flüchtete am 22. Januar 1945 mit ihrem Sohn und den beiden jüngeren Schwestern, als sie den Geschützdonner der Roten Armee hörte. Als der Krieg zu Ende war, besetzten für kurze Zeit amerikanische Truppen die Region, dann kamen die Russen. „Viele Menschen sind abgehauen“, erinnert sich Thiedig, „doch wir hatten keine Verwandten im Westen.“

Im Winter 45/46 begann wieder die Schule, Friedhelm Thiedig besuchte die Oberschule. Im letzten Schuljahr sollten die Schüler in die DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) eintreten. Thiedig weigerte sich nicht, ging aber trotzdem nicht zu den Veranstaltungen. Er war auch Mitglied in der Nationalen Front. Rief die eine Organisation, entschuldigte sich Thiedig mit einem Termin bei der anderen. „In Wahrheit habe ich nichts gemacht“, sagt er heute.

„Nachts verteilen wir Flugblätter, machst du mit?“

Bereits im Alter von 15 Jahren wusste Thiedig, dass er Geologie studieren wollte. Und er wollte nach dem Abitur in den Westen gehen. Mit Freunden schlich er sich über die bewachte, aber offene Grenze und fuhr mit einem Fahrrad bis ins Rheinland. Doch Wochen später kehrte Thiedig zurück. „Ich wusste nicht, wo ich unterkommen sollte“, sagt er. Er schrieb sich an der Universität Halle ein, am 1. September 1951 lag die Zulassung fürs Studium im Briefkasten.

Thiedig hatte Spaß am Studium, das sozialistische Regime ließ ihn in Ruhe. „Wir waren Mitglieder der FDJ, damit hatten wir eine Bekenntnis abgegeben“, sagt Thiedig, der eine kommunistische Diktatur wachsen sah. Um ihn herum wüteten die Kommunisten gegen jeden, den sie für ihren Gegner hielten. Thiedig hörte von Lagern und Menschen, die plötzlich verschwanden. Er musste Lehrveranstaltungen für Kommunismus und Russisch besuchen. „Wieder prägte Angst eine Gesellschaft“, erinnert sich der Norderstedter. „Mir war die Situation zuwider.“ Er wollte schnell studieren und danach die DDR verlassen. „Ich hatte schon mit den Nazis Probleme“, sagt Thiedig. „In der DDR erkannte ich, dass eine Diktatur die andere abgelöst hatte.“

Im Februar 1952 sprach ein Studienkollege Thiedig an. „Wir sind eine Widerstandsgruppe“, sagte der junge Mann. „Nachts verteilen wir Flugblätter, machst du mit?“ Drei Tage hatte Thiedig Bedenkzeit. Kurz zuvor war er mit dem Studienkollegen am „Roten Ochsen“ vorbeigegangen. „Dort landen wir im Keller, wenn wir auffliegen“, hatte der junge Mann gesagt.

Thiedig sagte zu, er wurde Mitglied der Gruppe Tarantel. Nachts zog er mit seinen neuen Freunden los und verschickte West-Berliner Zeitungen mit stark verkleinerter Schrift in einfachen Briefumschlägen. Darin lag außerdem eine mit Matrizen produzierte Osterpostkarte mit der Aufforderung, sich vom Kommunismus abzuwenden. Die Studenten verschickten 26 Briefe; Empfänger waren zumeist Professoren, die als fortschrittlich galten. Vor Thiedigs Beitritt hatte die Gruppe Flugblätter mit der Aufschrift „Rattenbekämpfung ist nationale Pflicht“ an Fensterläden und Türen geklebt. Die abgebildete Ratte trug Hammer und Sichel auf der Stirn.

Die Staatssicherheit ermittelte wochenlang unbemerkt gegen die Gruppe, bis sie zuschlug. An einem Aprilmorgen standen plötzlich zwei Männer in langen schwarzen Regenmänteln in Thiedigs Studentenzimmer. „Wir müssen sie mitnehmen“, sagten die Stasi-Offiziere. Sie nahmen den jungen Studenten fest, nachdem sie – ohne Erfolg – seinen Schrank und seine Kleidung nach Belastungsmaterial durchsucht hatten.

„Ich war gefasst und habe alles geleugnet“, erinnert sich Thiedig, doch bereits nach wenigen Tagen war die gesamte Gruppe aufgeflogen – durch Verrat. Thiedigs Zelle in der Untersuchungshaft im „Roten Ochsen“ war drei Meter lang. Darin standen ein Kübel für die Notdurft und eine Liege mit Strohsack und Wolldecke. Auf einem kleinen Brett an der Wand konnte er den Essnapf stellen. Durch ein Fenster über der Tür fiel Licht in den Raum. Thiedig wurde wochenlang vernommen. Er wusste, dass ein weiteres Mitglied der Gruppe der russischen Armee überstellt worden war: „Das bedeutete Genickschuss.“

In der Zelle absolvierte Thiedig täglich ein Laufpensum von zwei Kilometern

In seiner Einzelzelle suchte Thiedig nach Chancen, sich zu beschäftigen. „Zuerst lernte ich Rechenbeispiele mit Quadrat- und Kubikzahlen bis 20, die ich vorher mit einem kleinen Stück abgebrochenen Fensterkitts auf der mit dunkler Ölfarbe angestrichenen, schräg nach oben verlaufenden Fensternische errechnet hatte“, schreibt Thiedig in seinen Erinnerungen, der er der Universität Halle zur Verfügung stellte. Weiter heißt es darin: „Täglich absolvierte ich ein Laufpensum von etwa zwei Kilometern abwechselnd links und rechts herum kreisend in meiner winzigen Zelle.“ Außerdem vertiefte er sich in seine Vergangenheit und versuchte, so viele Erinnerungen wie möglich in seinem Gedächtnis aufzuspüren.

Im Juni folgte der Schauprozess. „Der Prozess vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Halle enthüllte die ganze Niedertracht des verbrecherischen Treibens der Bande Krüper und der von der USA finanzierten Kampfgruppe“, hetzte die Zeitung „Junge Welt“. Thiedig wurde zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Wieder wurde er im „Roten Ochsen“ eingesperrt, dann in Torgau inhaftiert. „Die Haftbedingungen waren sehr inhuman“, schreibt Thiedig. „Häftlinge starben an mangelnder Verpflegung, miserabler Unterbringung und fehlender bis sehr mangelhafter ärztlicher Versorgung an Lungen-Tuberkulose.“ Sechs Häftlinge lebten in einer Einzelzelle. Meistens mussten Thiedig und die anderen Häftlinge im Arbeitszimmer ausgemusterte Kampfflugzeuge der sowjetischen Armee zu Schrott zerlegen.

Thiedig versteckt sich, bis der Stasi-Mann wieder verschwindet

Wie überlebt ein junger Mann aus bürgerlichem Milieu das Lagerleben? „Das relativ geringe Strafmaß und meist gleichgesinnte Haftkameraden haben dazu beigetragen, weniger Verzweiflung aufkommen zu lassen“, schreibt Thiedig. Und weiter: „Auch die Vorfreude auf die zu erwartende Entlassung und der feste, unerschütterliche Glaube an ein neues, schönes Leben in der Freiheit Westdeutschlands trugen mich über die harten Zeiten.“

Am 15. Oktober 1955 wurde Friedhelm Thiedig entlassen – kahlgeschoren, mittellos und ohne eine Aussicht auf ein Leben in der DDR, das auch nur annähernd seinen Vorstellungen entsprach. Er besuchte die Familie und Freunde, aß endlich wieder Obst und ging zur Arbeitsfürsorge. Abfüller in einer Fabrik für Schuhcreme könne er werden, hieß es dort. „Wie schön“, antwortete er. „Ich habe mich schon immer für Chemie interessiert.“ Thiedig begann mit den Vorbereitungen seiner Flucht. Noch stand in Berlin keine Mauer, doch die DDR zu verlassen war verboten.

Am frühen Morgen des 28. Oktober 1955 steigt Friedhelm Thiedig in den Zug in Richtung Berlin. Sein Kalkül: Tausende Arbeiter fahren wie jeden Tag in die Hauptstadt der DDR, im Gedränge wird er nicht auffallen. Im Bahnhof Friedrichstraße will er in die S-Bahn in Richtung Westen umsteigen – und erschrickt. Auf dem Bahnsteig entdeckt er einen Stasi-Offizier, der ihn einst vernommen hat. Thiedig versteckt sich hinter einer Litfaßsäule, bis der Mann wieder verschwindet. Thiedig steigt in die S-Bahn. Kurz vor 8 Uhr kommt er im Westteil Berlins an.

Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Aufnahmelager reist Friedhelm Thiedig nach Tübingen und studiert Geologie. 1961 heiratet er, aus der Ehe gehen drei Kinder hervor. Nach seiner Promotion wechselt er zur Universität Hamburg und wird Professor. Seine Frau unterrichtet am Gymnasium Harksheide in Norderstedt. Die letzten 13 Berufsjahre verbringt der Geologe als Inhaber des Lehrstuhls für Geologie an der Universität Münster. Thiedig bricht regelmäßig zu langen Forschungsreisen auf. Vor Kurzem war er in Madagaskar unterwegs, regelmäßig reist er nach Kärnten.

Wer ihn 1952 verriet, hat Thiedig erst vor zwei Jahren erfahren. Ein Mitglied der Gruppe hatte den 15-jährigen Sohn seiner Zimmerwirtin gefragt, ob er Flugblätter verteilen möchte. Die Frau informierte die Polizei.

In der Sonnabend-Ausgabe setzen wir unsere Serie „25 Jahre Mauerfall" fort