Ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof zieht Parallelen zum Fall Snowden und weist auf Schwächen des deutschen Rechts hin

Kreis Segeberg. Knapp 20 Jahre wird der Fall der vom Kreis Segeberg entlassenen BSE-Warnerin Margrit Herbst bereits kontrovers diskutiert, das Abendblatt berichtete in den vergangenen Tagen und Wochen ausführlich. Die wohl interessanteste Unterstützung kommt jetzt von prominenter Stelle: Ninon Colneric, ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof, sagt: „Margrit Herbst hat nicht gegen das Gesetz verstoßen.“ Colneric hat sogar Edward Snowden über den Fall Herbst informiert. In einem Brief an Snowden, der bereits aus dem Jahr 2013 stammt, nennt Colneric den Fall Herbst als Grund für ihren Kampf um die Einführung eines Whistleblower-Schutzes in Deutschland. Aufgrund der aktuellen Kontroverse um Margrit Herbst hat Colneric den Brief nun im Internet veröffentlichen lassen. Bislang war er nur in einem Buch zum Fall Herbst zu lesen gewesen und hatte kaum Beachtung gefunden.

Margrit Herbst hatte ab 1990 als angestellte Tierärztin im Bramstedter Schlachthof Rinder mit typischen Symptomen der tödlichen Rinderkrankheit BSE entdeckt. Deutschland galt damals noch als BSE-frei – die Verdachtsfälle waren äußerst brisant. Herbst informierte ihre Vorgesetzten immer wieder darüber, schaltete auch den Landrat ein. Proben der Rinder blieben ohne eindeutig positives Ergebnis, werden heute allerdings als methodisch unzureichend kritisiert. Weil sie im November 1994 schließlich öffentlich vor BSE warnte, wurde Herbst vom Kreis Segeberg entlassen. In mehreren Gerichtsurteilen wurde die Rechtmäßigkeit der Kündigung bestätigt, Margrit Herbst hätte sich erneut an ihre Vorgesetzten und nicht an die Öffentlichkeit wenden müssen, so die Richter damals.

Ninon Colneric hält das für eine verkürzte Sichtweise. In dem Brief an Edward Snowden vergleicht sie den Fall des amerikanischen Whistleblowers mit der Tierärztin aus Brokstedt bei Bad Bramstedt. Zu dem Brief an Snowden kam es aufgrund einer Preisverleihung: Sowohl Margrit Herbst als auch Edward Snowden sind Träger des Whistleblower-Preises. Edward Snowden bekam den Preis 2013 für seine Enthüllungen zu den Überwachungsprogrammen der anglo-amerikanischen Geheimdienste. Margrit Herbst war 2001 für ihre öffentlichen Warnungen vor BSE-verdächtigen Rindern in einem Bad Bramstedter Schlachthof geehrt worden. Vergeben wird der Whistleblower-Preis von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, in der rund 400 kritische Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaftler organisiert sind.

Ninon Colneric hat selbst als Richterin den Fall Herbst verhandelt

Im Anschluss an die Verleihung 2013 hatte Ninon Colneric spontan 10.000 Euro an Edward Snowden gespendet. Auf Bitten der Organisatoren begründete sie die Spende in einem Brief an Snowden. Darin heißt es übersetzt: „Als Richterin in der Arbeitsgerichtsbarkeit sah ich die Schwächen des Schutzes für Whistleblower im deutschen Recht. Am meisten bedrückte mich der Fall von Dr. Margrit Herbst.“

Weiter heißt es: „Meines Erachtens hat Dr. Margrit Herbst nicht gegen das – korrekt im Lichte der deutschen Verfassung interpretierte – Gesetz verstoßen.“ An anderer Stelle schreibt Colneric: „Ich konnte sehen, dass die Richter, die ihren Fall verhandelt hatten, noch sehr stark unter dem Einfluss einer veralteten Lehre von der Treuepflicht gegenüber den Arbeitgeber gestanden hatten, aber leider war es nicht möglich, die prozessualen Hindernisse für eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu überwinden.“

Denn Colneric selbst hat als Richterin den Fall von Margrit Herbst verhandelt. Vor ihrer Zeit am Europäischen Gerichtshof war sie als Richterin am schleswig-holsteinischen Landesarbeitsgericht tätig – und beschäftigte sich dort eingehend mit Margrit Herbst. Colneric gehörte zu den Richtern, die eine Restitutionsklage (eine Art Wiederaufnahmeklage) Herbsts abwiesen – allerdings nur, weil die vorangegangenen Urteile bereits rechtskräftig und die formalen Bedingungen für eine Wiederaufnahme nicht erfüllt waren. Dem Abendblatt sagt Colneric: „Herbsts Grundrechte auf Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit wurden in den Gerichtsurteilen nicht gegen ihre Loyalitätspflicht abgewogen. Hätte ich die Möglichkeit dazu gehabt, hätte ich die Kündigung für unwirksam erklärt.“

In das Urteil schrieben Colneric und die anderen Richter deshalb einen bemerkenswerten Satz: Eine Reintegration von Herbst solle der Kreis Segeberg noch einmal prüfen. Colnerics Wort hat Gewicht, sie ist ausgewiesene Fachfrau für Arbeitsrecht. Nach ihrer Zeit als Präsidentin des schleswig-holsteinischen Landesarbeitsgerichts war sie Honorarprofessorin an der Universität Bremen, als deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof wurde sie nur aus Gründen des politischen Proporzes abgelöst.

Ob Colnerics Forderungen erhört werden, prüft derzeit der Kreis Segeberg. Auf Antrag der Linken hat sich der Hauptausschuss bereits zu zwei Sondersitzungen getroffen. Konkret wurde beraten, ob Margrit Herbst rehabilitiert und finanziell entschädigt werden soll. Auch Herbst selbst durfte mittlerweile ihre Sicht der Dinge darstellen. Die Chancen stehen dennoch nicht besonders gut für Margrit Herbst. Viele der ehrenamtlichen Politiker pochen auf die Gültigkeit der Arbeitsgerichtsurteile, einige sehen Herbst auch nicht als Whistleblowerin. Sie hätte den Dienstweg einhalten müssen, so die Argumentation.

Margrit Herbst hofft, dass es anderen Menschen künftig besser ergeht

Ninon Colneric hingegen ist sich sicher: „Natürlich ist Margrit Herbst eine Whistleblowerin.“ Es sei die große Schwäche des deutschen Rechts, dass es nicht klar regele, wann sich ein Arbeitnehmer, der Missstände entdeckt habe, an wen wenden kann. Nach dem Fall Herbst hatte Colneric vergebens versucht, die deutschen Politiker von der Notwendigkeit eines Gesetzes zum Schutz von Whistleblowern zu überzeugen.

Margrit Herbst ist für die Unterstützung durch die hoch angesehene Richterin dankbar. „Allerdings denke ich nicht nur an mich“, sagt die 74-Jährige. „Es geht vor allem darum, dass es Tierärzten und anderen Menschen in ähnlichen Situationen künftig besser ergehen soll als mir.“ Die promovierte Tierärztin hat nach ihrer Entlassung nie wieder eine Anstellung gefunden, lebte zwischenzeitlich von Arbeitslosenhilfe. Mittlerweile wohnt sie in einer kargen Dachgeschosswohnung in Brokstedt bei Bad Bramstedt.

Den mangelhaften Schutz von Whistleblowern räumte unlängst selbst der Wissenschaftliche Dienst des Schleswig-Holsteinischen Landtags ein. Genau wie Ninon Colneric verweist das Gutachten auf ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Darin wird der Gang an die Öffentlichkeit als „letztes Mittel“ gerechtfertigt und auf das Recht auf freie Meinungsäußerung verwiesen.

Für Ninon Colneric sind die Fälle von Snowden und Herbst zumindest in Ansätzen vergleichbar. Edward Snowdens Enthüllungen seien zwar ungleich spektakulärer. „Was Frau Herbst gemacht hat, ist aber ebenso eine Form der Zivilcourage. Es ist die Zivilcourage, die Arbeitnehmer in einem normalen Arbeitsverhältnis im öffentlichen Interesse zeigen können“, sagt Colneric. Außerdem hätten beide bewusst ihre berufliche Karriere gefährdet.

Die Richterin ist nicht die einzige Unterstützerin von Margrit Herbst. Neben Linken und Piraten setzen sich auch Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, und Johannes Ludwig, Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, für Herbst ein. Der Kreis Segeberg will am 4. und 6. November erneut über die Tierärztin beraten. Ninon Colneric hofft weiter auf eine Rehabilitation von Herbst. Sie fordert, dass der Kreis Segeberg mit Herbst unter der Leitung eines Mediators über eine Entschädigung verhandelt.

Eine umfangreiche Dokumentation mit wichtigen Dokumenten zum Fall Herbst im Wortlaut hat die Piratenpartei veröffentlicht.