50-Jähriger wegen Versicherungsbetrugs angeklagt. Verteidiger Jürgen Meyer bringt neue Beweisanträge ein.

Norderstedt. Das Gericht zieht sich zurück, alle warten auf das Urteil in einem ebenso spektakulären wie kniffligen Fall: Hat sich Ralf-Werner D. Daumen und Zeigefinger der linken Hand an der Kreissäge absichtlich abgeschnitten, um 1,4 Millionen Euro an Versicherungssumme zu kassieren? Oder war es ein Unfall? Versicherungsbetrug lautet die Anklage im Saal F des Amtsgerichts Norderstedt, der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe. Und der erwartete und angekündigte Urteilsspruch fiel nicht. Richterin Wiebke Dettmers und ihre beiden Schöffen vertagten die Verhandlung. Das lag am beeindruckenden Plädoyer von Rechtsanwalt Jürgen Meyer, der vor dem eigentlichen Plädoyer noch einige Trümpfe aus dem Ärmel zog, sodass dass das Gericht Bedenkzeit braucht.

Meyer plädierte für Freispruch. „Es lässt sich nicht zweifelsfrei, objektiv und plausibel beweisen, dass mein Mandant sich die Finger selbst in der Absicht amputiert hat, die Versicherungssumme zu kassieren“, sagte der Verteidiger. Und nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ müsse die Unschuldsvermutung gelten. Schritt für Schritt attackierte der Jurist die Argumente der Staatsanwaltschaft.

Er zitierte aus dem Befundbericht des ehemaligen Elim-Krankenhauses in Hamburg, in dem der 50 Jahre alte Versicherungsfachmann nach der Verletzung vom 11. Februar 2010 medizinisch versorgt worden war. Die zerfetzte Wundfläche sei typisch für eine Sägeverletzung, es gebe keine Anzeichen für Probierschnitte. Am ersten Verhandlungstag im Amtsgericht Norderstedt hatte Rechtsmediziner Professor Hans-Jürgen Kaatsch ausgesagt, dass die Verletzung auf der Oberseite des abgetrennten Zeigefingers wie ein Testschnitt aussehe – Menschen, die sich mutwillig Finger absägen, machten oft Testschnitte. Es gebe mehrere Gutachten mit widersprüchlichen Aussagen. Gerade wenn die Gutachter zu dem Schluss kommen, dass die Verletzungen eher auf eine Selbstexekution hindeuten, hinterlasse das Zweifel.

Meyer forderte ein psychiatrisches Gutachten, um nachzuweisen, dass sich Menschen bei solchen extremen Erlebnissen wie dem Verlust zweier Finger oft nicht an den Unfall selbst erinnern, aber trotzdem rational handeln können. D. hatte angegeben, der Schnitt selbst sei aus seinem Gedächtnis getilgt. Die Erinnerung setze ein, als er die Wunde in der Küche mit einem Geschirrtuch verbunden habe. Dann habe den Verbandskasten aus dem Auto geholt, sich im Keller medizinisch versorgt. Er sei mit dem Auto in die Paracelsus-Klinik gefahren und müsse wahrscheinlich beim Einsteigen die Amputate verloren haben. Seine Frau fand die Finger zehn Tage später beim Schneeschieben.

Ein solcher Handlungsablauf sei plausibel, sagt der Rechtsanwalt. Staatsanwalt Christian Mohr sah darin ein Indiz für die Selbstverstümmelung und verwies auf Rechtsmediziner Kaatsch. „Danach ist es typisch, dass diese Menschen oft selbst in die Klinik fahren, damit niemand die Amputate findet, die ja sonst wieder angenäht werden könnten. Typisch ist auch das Fehlen von Zeugen und, dass Haustiere als Ursache genannt werden.“ Das einzige, auf das D. habe mit voller Konzentration achten müssen, seien die beiden Finger gewesen. Und ausgerechnet die blieben zunächst verschwunden. Zudem habe es im Keller extrem wenig Blut gegeben. „Eine solche Kumulation von Zufällen kann es gar nicht geben“, sagte Mohr und forderte eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren.

Meyer konterte: Pflegekräfte im Elim-Krankenhaus hätten gesagt, dass D.s Kleidung stark mit Blut verschmiert war, möglicherweise habe der die Hand nach dem Schnitt sofort unter oder an die Kleidung geschoben. Finanzielle Not als Motiv für die Selbstverstümmelung scheide aus. Der Angeklagte und seine Frau hätten ausreichend verdient und kaum Schulden gehabt. Zudem habe ihm die HDI-Versicherung eine Perspektive geboten, eine eigene Agentur mit neuen Mitarbeitern und zusätzlichen 500 Kunden.

Dass sein Mandant noch kurz vor der Verletzung eine weitere Invaliditätsversicherung abgeschlossen und von den insgesamt vier Versicherungen 1,4 Millionen Euro für den Verlust der Finger und die damit verbundene 20- bis 30-prozentige Erwerbsunfähigkeit bekommen würde, sei kein Indiz für eine Verurteilung. Nach einem versicherungsmathematischen Gutachten, das ebenfalls in die Beweisaufnahme eingeführt werden soll, könne mit dieser Summe etwa der Verlust der Arbeitskraft gedeckt werden.

Der Prozess wird am Freitag, 31. Oktober, ab 12.30 Uhr im Saal F des Amtsgerichts Norderstedt fortgesetzt.