Sie warnte als erste vor BSE. Und wurde entlassen. Die Kreispolitik berät heute, 20 Jahre danach, über die Rehabilitation der Tierärztin. Porträt einer unbeugsamen Tierliebhaberin

Ihr morgendliches Schinkenbrot inspiziert Margrit Herbst akribisch; die 74-jährige Tierärztin achtet auf Blutpunkte, einen perlmuttartigen Schimmer an der Oberfläche und eine gleichmäßige Färbung. Hauchfein sind die Scheiben, zu mehr reicht die karge Rente nicht. Um es etwas schmackhafter zu machen, stellt sich Margrit Herbst vor, in dicke saftige Schinken-Happen zu beißen. Das klappt ganz gut, Vegetarismus aus Prinzip ist ihre Sache ganz offensichtlich nicht.

Noch präziser als ihr Schinkenbrot untersucht Margrit Herbst von 1978 an Rinder, die im Schlachthof Bad Bramstedt geschlachtet werden. Angestellt ist sie beim Veterinäramt des Kreises Segeberg. Ihre Aufgabe: Gesunde von kranken Rindern unterscheiden. Von 1990 bis 1994 meldet sie ihren Vorgesetzten insgesamt 21 Tiere mit Bewegungsstörungen. Teilweise traben die Rinder wie Pferde. Ihr heikler Verdacht: Rinderwahnsinn.

In den 90er-Jahren, lange bevor die Krankheit Deutschland in Atem hält, gibt es die BSE-Erkrankung offiziell nur in Großbritannien; Deutschland, so das Mantra von Politik und Fleischindustrie, ist BSE-frei. Herbst kämpft dafür, dass die verdächtigen Tiere begutachtet werden – wenn möglich lebend. Tatsächlich werden nur die von den Bolzenschüssen zerstörten Hirne toter Rinder untersucht. Das Ergebnis: „Keine eindeutigen Hinweise“ auf BSE. Das schleswig-holsteinische Landwirtschaftsministerium macht daraus: „Eindeutig negative Ergebnisse“.

Das resolute Fazit der Landesregierung ist nicht die erste harsche Zurechtweisung im Leben von Margrit Herbst. Geboren im Kriegsjahr 1940, wächst sie in einem Dorf in der Nähe von Flensburg auf. Puppen interessieren die kleine Margrit nicht, sie spielt lieber mit Nachbarsohn Erwin. Der allerdings ist nur Ersatz, verliebt ist Margrit in Pferde. Zunächst spannt sie also Erwin ein: An den Armen mit Bindfäden festgezurrt, dient er ihr als Zugpferd. Später funktioniert Margrit ihre Meerschweinchen zu Springpferden um, macht Onkels großen weißen Ungarischen Hirtenhund Tyras zum Kutschpferd. Vater Herbst hat nicht viel übrig für die Abenteuer seiner Tochter, Pferde ängstigen ihn. Für die Spielchen mit Erwin bestraft er Margrit. Am Weihnachtsabend nimmt er ihr das Geschenk des Großvaters: ein naturgetreues Spielzeugpferd mit wallender Mähne. Doch Margrit Herbst setzt sich mit ihrer Liebe zu Pferden durch. Nach dem Abitur studiert sie Veterinärmedizin in Hannover. Gleich zu Beginn des Studiums marschiert sie schnurstracks auf die nahe Rennbahn. Schon am nächsten Tag darf sie die Vollblüter zu Trainingszwecken reiten. Ein halbes Leben später, auf dem Schlachthof in Bad Bramstedt, hört Margrit Herbst nicht auf, Alarm zu schlagen, weist weiter auf kranke Tiere und Hygienemängel im Schlachthof hin. „Die Verdachtsfälle sind damals vertuscht worden“, sagt sie noch heute. Die Tierärztin wird plötzlich ans Schlachtband versetzt, dort kann sie keine BSE-Verdachtsfälle mehr dokumentieren. Von ihren Vorgesetzten fühlt Margrit Herbst sich zunehmend gemobbt und erniedrigt, die Knochenarbeit auf der Hebebühne mit den schweren Rinderhälften zermürbt sie. Sie wird krank – immer häufiger, bis ihre körperlichen Leiden schließlich chronisch werden. 1994 nimmt Margrit Herbst ihren gesamten Mut zusammen, sie erträgt das Schweigen nicht mehr. Im Fernsehen erzählt sie Günther Jauch und Millionen von Zuschauern von ihrem BSE-Verdacht. Einen Monat später, am 15. Dezember 1994, wird Margrit Herbst vom Kreis Segeberg fristlos gekündigt.

Der Schlachthofbetreiber verklagt sie auf Schadenersatz, droht mit Strafen von bis 500.000 D-Mark. Diesen Prozess gewinnt Margrit Herbst. Das Oberlandesgericht schreibt einen bemerkenswerten Satz in sein Urteil: Es könne sich der Verdacht aufdrängen, „dass den staatlichen Stellen im Einklang mit den fleischerzeugenden und fleischverarbeitenden Betrieben sehr daran gelegen war, einen amtlichen BSE-Nachweis wenn irgendmöglich zu verhindern“.

Trotzdem: Die Kündigung, so urteilt ein anderes Gericht, sei rechtens. Margrit Herbst habe die Verschwiegenheitspflicht gebrochen.

Die Entlassung ist der Bruch im Leben der promovierten Veterinärin. Nie wieder findet sie eine Anstellung in ihrem Beruf, lebt bis zur Rente von Arbeitslosengeld. Heute wohnt Margrit Herbst allein in einer kleinen Dachgeschosswohnung in Brokstedt bei Bad Bramstedt. Unter den Dachschrägen stapeln sich Aktenordner – stumme Zeugen eines Kampfes um Anerkennung und Wiedergutmachung. Das Leben von Margrit Herbst und der Fall Herbst sind eins geworden.

Der Fall Herbst wird immer größer. Für die Medien ist die Tierärztin eine Whistleblowerin. Zuletzt berichtete das ARD-Magazin „Plusminus“ über die „kaltgestellte Informantin“. Herbst plant ihre Treffen mit Medien minutiös; stets ist sie gut vorbereitet, hat Akten und Fakten parat. Prominente Fürsprecher helfen ihr, der Bundesverwaltungsrichter Dieter Deiseroth schreibt ein Buch über den Fall Herbst; mit Preisen wird sie überhäuft. Nur auf das Bundesverdienstkreuz verzichtet sie. Im Gegenzug, so sagt sie, habe das Land sie aufgefordert, keine Schadenersatzansprüche an den Kreis Segeberg zu stellen. „Da habe ich dankend abgelehnt“, sagt Herbst mit Empörung in der Stimme. Der Kreis, ihr ehemaliger Arbeitgeber, ist der einzige, der ihre Verdienste nach wie vor nicht anerkennt.

Den Menschen Margrit Herbst macht der Kampf müde. Die vielen Treffen mit Anwalt, Befürwortern und Medien zehren an der 74-Jährigen. Jedes Mal kommen die Demütigungen, die Wut, die Ohnmacht wieder hoch. „Das ist Arbeit für mich“, sagt Margrit Herbst. Erholung findet sie bei ihrem Pferd Sally. Mit der Lewitzer Scheckstute reitet sie täglich aus. Die Liebe zu Tieren hat sie nie verloren.

Zurückziehen in ein ruhiges Leben mit Pferd will Margrit Herbst sich nicht, noch hat sie ihren Frieden nicht gefunden. „Ich bin niemand, der kneift; ich will meinen Widersachern noch einmal ins Gesicht sehen“, sagt Margrit Herbst. „Mich interessiert, wie sie das, was sie mir angetan haben, mit ihrem Gewissen vereinbaren können.“

Herausfinden kann sie das heute Abend. Nach dem jüngsten Skandal auf dem Bramstedter Schlachthof hat Die Linke den Fall Herbst wieder zum Thema gemacht. Während der Sitzung der Hauptausschusses wird beraten, ob Margrit Herbst rehabilitiert und finanziell entschädigt wird. In einer weiteren, dann öffentlichen Sitzung soll ein Beschluss gefasst werden. Sollte sie entschädigt werden, will Margrit Herbst das Geld für ein vernünftiges Altersheim sparen. Und jeden Morgen eine dicke Scheibe Qualitätsschinken wäre auch nicht schlecht. Wichtiger noch als Geld ist ihr aber der Ruf. Den auch offiziell wiederherzustellen, könnte ihr nach 20 Jahren Kampf nun endlich gelingen.