Ulrike Hagemann blickt kurz vor ihrem Ruhestand auf 26 Jahre als SOS-Kinderdorf-Mutter zurück

Wenn Ulrike Hagemann, 56, in geselliger Runde für ungläubiges Schweigen sorgen will, dann bringt sie ihren Spruch. „Ich habe neun Kinder von sechs verschiedenen Vätern großgezogen.“ Und schiebt mit etwas Verspätung hinterher, dass sie keine promiskuitive Lebedame ist, sondern 26 Jahre Mutter im SOS-Kinderdorf Harksheide war. Was dann nicht selten eine nicht enden wollende Fragenflut auslöst. Denn Kinderdorf-Mütter sind für die meisten Menschen so exotisch wie Känguruhs.

„Ach, wir sind doch nur ganz normale Menschen“, sagt Ulrike Hagemann. Was natürlich deutlich zu tief gestapelt ist. Es gehört schon eine gehörige Portion Selbstlosigkeit, Idealismus und Nächstenliebe dazu, um einen ähnlichen Lebensweg zu gehen, wie ihn die 56-Jährige jetzt hinter sich hat. Ganz normale Menschen sind dazu in der Regel selten fähig.

Ulrike Hagemann hatte in ihrem Leben immer schon andere Ziele. Sie wächst in Bottrop auf, als Tochter eines Blumenhändlers und einer Lehrerin. „Meine Mutter kümmerte sich in ihrer Schule besonders um die Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen. Und mein Vater hatte in seinem Geschäft immer wieder Azubis mit problematischen Lebensläufen. So kam ich früh in den Kontakt mit benachteiligten Menschen. Das hat mich tief beeindruckt.“ Hinzu kamen die Geschichten über die damals entstehenden SOS-Kinderdörfer, die der Großvater ihr erzählte.

„Ich versuchte es zunächst in der normalen Arbeitswelt. Ich hielt es nur eine Weile aus“, sagt Ulrike Hagemann. Elf Jahre arbeitet sie im Buchhandel, ehe es ihr zu doof wird, ständig nur die Kassen des Händlers zu füllen, wie sie sagt. Sie wagt den Schritt in die andere Welt, die des SOS-Kinderdorfes. Sie besucht die Mütterschule der SOS-Organisation am Starnberger See, in der sie kompakt und auf die Herausforderungen des SOS-Mutter-Daseins vorbereitet wird.

Als sie im Mai 1988 im Haus 15 in Norderstedt-Harksheide die ersten vier Kinder ihrer Mutter-Karriere zugewiesen bekommt, erkennt sie schnell, dass die Theorie einen nicht wirklich auf das vorbereitet, was nun ihr Alltag sein sollte. Vierfach-Mutter von jetzt auf gleich, ohne Mann oder Oma und Opa, die mal aushelfen. Noch dazu Kinder, die aus prekären Verhältnissen stammten, strukturlos aufwuchsen und sozial verwahrlost sind. Eineinhalb, drei, fünf und neun Jahre – Orgelpfeifen.

Sie kannten weder einen geordneten Tagesablauf noch das Gefühl der Verlässlichkeit. „Wenn sie irgendwann am Tag sagten, wir wollen essen und ich sagte, es ist 15 Uhr, in drei Stunden gibt es Abendbrot, dann schrien sie alle los.“ Die Kinder waren es gewohnt, vertröstet zu werden. Später gibt’s was zu essen bedeutete in ihrer Familie immer, heute müssen wir hungern. Dass die SOS-Mutter keine Lügnerin war, das mussten die Knirpse erst lernen. Ulrike Hagemann zeigt auf eine Stelle unter der Uhr an der Wand im Flur. „Dort hängte ich kleine Papp-Uhren auf mit den Zeiten für Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. Die Kinder wussten von da an genau, wie die Zeiger stehen mussten, damit es Essen gab.“

Die Uhren sind längst verschwunden. Auf dem Tisch stehen jetzt die Umzugskartons. In den Kinderzimmern sind die Betten verwaist. Die Kinder sind groß und ins eigene Leben gestartet. Ulrike Hagemann verpackt ihr Leben als Kinderdorf-Mutter. Ihre vier ersten Kinder und die fünf, die noch folgten – sie alle haben irgendwie die Kurve bekommen. Trotz des schweren Starts in ihr Leben.

Wie bei jeder Mutter, die auf die Kindererziehung zurückblickt, verblassen die schweren Zeiten in der Erinnerung und glänzen die schönen Tage umso prächtiger. Müßig zu sagen, dass die Kinder Ulrike Hagemann oft bis an den Rand des Erträglichen trieben und sie, als praktizierende Katholikin, nur durch ihren festen Glauben an Gott und das Gute im Menschen den Kurs halten konnte. Eine Tochter hätte sie mit ihren extremen Bindungsstörungen fast „aufgesaugt“, wie sie sagt. „Das Kind kannte in ihrer Familie nur Schläge. Als sie mich als Mutter bekam, konnte sie meine Aufmerksamkeit nicht mit den anderen Kindern teilen. Gleichzeitig hielt sie die Nähe nicht aus. Ein Teufelskreis.“

Aber in der 56-Jährigen überwiegt doch die Überzeugung, wunderschöne Zeiten mit ihren Kindern erlebt zu haben. Und das habe auch mit der anderen Ausrichtung der Jugendarbeit in diesen Jahren zu tun gehabt. Während heute der Elternkontakt gesucht und gefördert werde, gab es damals den strikten Schnitt zwischen der zerrütteten Vergangenheit und dem SOS-Asyl. Für Ulrike Hagemann bedeutete das mehr Familienleben, wie sie sagt. „Wir hatten Freiraum, machten gemeinsame Ausflüge. Heute sind die Kinder am Wochenende bei ihren Eltern – falls die sich melden. Und wir Mütter füllen die Zeit damit aus, Berichte an die Behörden zu verfassen.“ Nun das Dorf zu verlassen, fällt Ulrike Hagemann nicht schwer. „Mama bleibst du immer. Das ist hier im Dorf nicht anders als draußen.“ Sie engagiert sich in der St.-Hedwig-Gemeinde – dort ist sie die neue Küsterin. Keine eigenen Kinder zu haben und keinen Lebenspartner, lastet nicht als Bürde auf der SOS-Mutter. „So war das eben in meiner Zeit: Wenn du als SOS-Mutter einen Mann kennengelernt hast, war Schluss im Dorf.“ Wenn manche sie fragen, ob sie Nonne sei, dann findet sie den Vergleich gar nicht so unpassend. „Eine Nonne zu sein ist doch etwas sehr Gutes.“

Dass heute vermehrt SOS-Elternpaare in die Dörfer einziehen sollen, findet Hagemann grundsätzlich gut. „Denn die Jungs brauchen die Vaterfigur. Aber ich bin trotzdem skeptisch.“ Denn sie hat diese Modelle scheitern sehen, weil das Miteinander von eigenen und in Obhut genommenen Kindern zu viele Konflikte in der Erziehung birgt.

Ulrike Hagemann wird jetzt ihre neu gewonnene Freizeit genießen. Sie liebt es, Hamburg zu entdecken und Ausflüge nach Nordstrand zu machen. Und, wie jede Mutter, die die Kinder groß und aus dem Haus hat, fragt sie sich. „Wie wird es wohl an Weihnachten? Kommen alle zu mir? Oder laden die mich mal ein?“