Hungriger Buntspecht meißelt Loch in selbst gebauten Meisenkasten, schnappt sich die Jungvögel und verspeist sie

Norderstedt. Sie hat schon fast auf das Gepiepe aus dem Garten gewartet. „Immer, wenn die Alten kamen, haben die jungen Meisen ein wahres Piepkonzert angestimmt. Und die Eltern flogen im Minutentakt in den Meisenkasten, um den Nachwuchs zu füttern“, sagt Herma Lutter. Doch plötzlich herrschte Stille, die Stimmen der Vogelkinder waren verstummt. Herma Lutter stellte eine Leiter an den Kirschbaum, an dessen einem Ast der Meisenkasten hing, und warf einen Blick durch das Ein- und Ausflugloch. Und dann sah die Norderstedterin ein zweites Loch an der Seite des Vogelhauses, das ihr Mann aus einem Ast des Kirschbaums gearbeitet hatte.

Er hatte den Ast ausgehöhlt, für den Boden einen Holzstopfen zugesägt, der die Brutstätte für die Vögel verschloss, oben ein Dach mit leichtem Überstand befestigt und ein Loch für den An- und Abflug in das runde Zuhause gebohrt. „Wir haben noch einen zweiten selbst gebauten Meisenkasten, und die werden gut angenommen, wahrscheinlich, weil sie den natürlichen Brutplätzen eher entsprechen als die Nistkästen, die man kaufen kann“, sagt Herma Lutter.

Zweimal im Jahr haben die Meisen die Brutplätze in den Kästen besiedelt

Zweimal im Jahr haben die Meisen die Brutplätze im Garten der Lutters besiedelt, in dem einen haben Kohlmeisen Familien gegründet, den anderen haben Blaumeisen genutzt, um dem Nachwuchs bis zur Selbstständigkeit Schutz zu bieten. Das hat viele Jahre gut funktioniert, die Lutters haben sich am Familienleben der Meisen auf ihrem Grundstück in Friedrichsgabe erfreut. Sie haben die Meisenhäuser sogar in jedem Herbst kontrolliert und gewartet. „Wir haben sie sauber gemacht, Haare, Moos und all die anderen weichen Nestmaterialien entfernt, und sie sogar mit kochendem Wasser ausgespült, um Keime abzutöten“, sagt Herma Lutter.

Doch jetzt hat einer die schützende Holzhülle geknackt. Ein Buntspecht wollte wohl seine Speisekarte erweitern, und da kamen ihm die jungen, noch hilflosen Meisen gerade recht. Erst hat er versucht, durch das Einflugloch an seine Beute heranzukommen. Doch so lang er den Hals auch gereckt hat, es hat nicht gereicht.

Hieb für Hieb hat der fliegende Zimmermann die Wand durchtrennt

Doch Aufgeben kam für den gefiederten Holzhacker nicht in Frage. Sein Plan war, ein neues, tiefer gelegenes Loch zu schaffen, um an die Jungmeisen heranzukommen. Gedacht, getan – der amselgroße Vogel, der an seinem kontrastreichen schwarz-weiß-roten Gefieder gut zu erkennen ist, hat mit seinem meißelartigen, kräftigen Schnabel Hieb für Hieb die Wand durchtrennt. Gehört hat ihn Herma Lutter nicht. Sie geht davon aus, dass er in den frühen Morgenstunden seiner Arbeit nachgegangen ist. Irgendwann war das Loch groß genug, damit der Vogel mit dem Kopf durchpasste und sich die Meisenjungen holen konnte.

„Wie viele es genau waren, kann ich nicht sagen. Im Durchschnitt waren es immer vier bis fünf pro Brut“, sagt Herma Lutter, die zunächst nicht glauben wollte, was sie da sah. Sie ging davon aus, dass sich Buntspechte von Insekten und Larven ernähren, die sie unter der Borke freilegen. „Ich habe mich in einem Vogelbuch schlaugemacht und gelernt, dass Spechte durchaus auch mal Nester räubern und Jungvögel verspeisen“, sagt sie. Ingo Ludwichowski, Geschäftsführer des Naturschutzbundes Schleswig-Holstein, bestätigt das: „Es kommt durchaus vor, dass Buntspechte Nester ausräumen.“

Den leer geräumten Meisenkasten will Herma Lutter nicht wieder in den Kirschbaum hängen. Sie glaubt nicht, dass dort nochmals Meisen nisten werden.