Gisela Wedemeyer engagiert sich im hohen Alter noch als Heimbeirätin. Ein außergewöhnliches Ehrenamt

Man kann natürlich auch einfach die Tür zumachen. Die Welt da draußen ignorieren und sich für den Lebensabend in die innere Emmigration verabschieden. Lasst mich alle in Ruhe, bleibt draußen, ist mir doch egal.

Gisela Wedemeyer, 100, ist da ganz anders. Sie hält die Tür immer noch weit offen. Sie möchte sich nicht abfinden mit den Dingen. Sie möchte teilhaben. Und wo immer es geht, das Schlechte zum Besseren machen.

Im Altenheim Scheel in Garstedt hat die 100-Jährige sich ein hübsches Zimmer ausgesucht und mit Geschmack eingerichtet. An diesem Mittwoch sitzt die Dame in ihrem Sessel im sonnenlichtdurchfluteten Erker und blickt mit wachen Augen auf ihr Gegenüber. „Ich bin doch ganz klar im Kopf“, sagt Gisela Wedemeyer. Es klingt wie eine Ansage – erzähl’ mir nichts, mir bindest du keinen Bären auf.

So klar der Kopf sein mag, so schwer macht es ihr der 100-jährige Körper die Dinge mit dem selben Elan anzugehen, wie sie es ihr Leben lang gewohnt war. Die Augen brauchen zwar keine Brille, nachdem ihr der graue Star wegoperiert wurde. Dafür bekommen die Ohren nur noch das sehr laut gesprochene Wort mit – und mit der Fortbewegung ist es mehr schlecht als recht. Alles keine Gründe, sich nicht mehr ehrenamtlich zu engagieren, findet Gisela Wedemeyer.

Sie ist seit fünf Jahren Heimbeirätin. Das heißt, die anderen 130 Bewohner im Altenheim Scheel haben sie per Wahl beauftragt, das gesetzliche Recht der Heimbewohner auf Mitwirkung und Mitbestimmung gegenüber der Heimleitung wahrzunehmen. Heißt im Klartext: Wenn irgendjemand im Heim irgendetwas nicht passt, wenn das Essen mies war, wenn das Unterhaltungsprogramm öde oder der neue Pfleger grob war, dann wenden sich die Bewohner an Gisela Wedemeyer und ihre vier Mitstreiter im Heimbeirat.

„Frau Wedemeyer sagt uns dann, wo es hakt“, sagt Peter Böttcher, Diplom-Psychologe im Altenheim Scheel, und einer, der Gisela Wedemeyer seit Jahren gut kennt und betreut. „Ich habe den Eindruck, dass sie immer alles mitbekommt und sich häufig beim Essen mit den anderen Senioren austauscht.“ Oft seien ihre Bemerkungen zwar nur kurz und prägnant („War gut! War nichts gut!“), doch sie seien immer ein Gradmesser, ob die Heimleitung mit einem Angebot richtig oder falsch liege. Böttcher: „Wenn das Essen mal nicht nach dem Geschmack der Bewohner ist, dann setzen wir die Köchin bei einem Treffen des Heimbeirates einfach mit an den Tisch und besprechen das.“ Per Gesetz muss die Heimleitung die Beiräte bei der Verpflegungs- und Veranstaltungsplanung sowie bei der hauswirtschaftlichen Versorgung einbinden.

Als Heimbeirat ist Gisela Wedemeyer auf dem Papier aber auch gefragt, wenn es um die komplizierten und rechtlich heiklen Angelegenheiten der Heimbewohner geht. Wenn zum Beispiel die Prüfer des medizinischen Dienstes der Krankenversicherer in die Einrichtung kommen und sie auf Standards in der Pflege prüfen, dann müssen diese auch Rücksprache mit dem Beirat halten. Aufgaben, mit denen eine 100-Jährige überfordert ist.

Da kommen dann die ehrenamtlichen Helfer der Landesarbeitsgemeinschaft Heimmitwirkung ins Spiel. Seit 2002 werden Ehrenamtliche in Schleswig-Holstein ausgebildet, die die Heimbeiräte in den 660 stationären Einrichtungen in ihrer Arbeit unterstützen sollen. Seit 2004 gibt es die Landesarbeitsgemeinschaft, 80 Ehrenamtliche sind landesweit tätig. In Norderstedt engagieren sich die beiden Vorsitzenden des Seniorenbeirates, Angelika Kahlert und Hans Jeenicke. „Wir stehen mit unserem Know-how den Beiräten wie Gisela Wedemeyer zur Seite. Gerade bei den schwierigeren Themen“, sagt Hans Jeenicke. Die Etablierung der Beiräte in den Heimen und die Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität sind das Ziel. Jeenicke sorgt in acht Einrichtung dafür, dass Heimbeiräte funktionieren. „Viele Senioren winken ab, wenn sie Verantwortung übernehmen sollen. Es ist sehr schwer, Beiräte zu finden“, sagt Jeenicke.

Menschen wie Gisela Wedemeyer sind da echte Glücksfälle. In ihrer Familie gehört das ehrenamtliche Engagement zum Selbstverständnis. Enkeltochter Astrid Joost: „Oma ist unser Vorbild.“ Sie selbst wirkt ehrenamtlich in der Kirchengemeinde Rhen und bei der Brötchenausgabe im Lessing-Gymnasium – und das, obwohl ihre Kinder gar nicht mehr auf der Schule sind. „Es macht einfach Spaß. Und viele Eltern haben einfach keine Zeit, die Aufgabe zu übernehmen. Ich aber bekomme so viel zurück: Ich treffe nette Leute, bekomme postives Feedback und Anerkennung.“ Ihre Kinder vergattert sie regelmäßig dazu, beim Norderstedter Triathtlon mitanzupacken. „Da kommen die nicht dran vorbei.“

Für Gisela Wedemeyer geht es bei all dem auch um Haltung. Sich gehen zu lassen, kommt nicht infrage. Als ihr Mann starb, war die gelernte Säuglingsschwester 59 Jahre alt und begann als Fußpflegerin ein neues Leben, bot Fußreflexzonenmassagen und Lymphdrainagen an – bis sie 92 Jahre alt war und es nicht mehr ging. Ihr ehemaliges Leben in Essen und das Haus, in dem sie Jahrzehnte selbstbestimmt verbrachte, gab sie schließlich ohne wehmütigen Blick zurück auf und zog zu den Kindern nach Norderstedt.

Ute Algier aus Norderstedt ist die Vorsitzende der Landesarbeitsgemeischaft Heimmitwirkung. Sie ist unter Telefon 040/524 13 86 zu erreichen oder unter u.algier@wtnet.de per E-Mail. Infos gibt es auch unter lag-heimmitwirkung.de