Die Tangstedterin Erna Pigorsch reist gern, bügelt und spielt Schach – nur das Seilspringen hat ihre Tochter ihr verboten

Oma Erna hat zur Kaffeetafel eingeladen. Mitten auf dem Tisch in ihrem gemütlichen Wohnzimmer steht eine kleine Etagere, gut gefüllt mit Zitronenkuchen, Keksen und Schokoladenstückchen. Die alte Dame sieht frisch und erholt aus, obwohl sie einen langen, beschwerlichen Tag hinter sich hat.

„Diesen schönen Ausflug werde ich nicht vergessen“, erzählt sie. Fast 100 Mitglieder hatten sich aus Anlass des 15-jährigen Bestehens des Vereins Aktive Senioren Tangstedt in zwei Bussen zur Jubiläumstour an den Luftkurort Arendsee in Sachsen-Anhalt kutschieren lassen. Oma Erna, die älteste im Verein , war dabei. Sie ist hundert Jahre alt. „Morgens um fünf Uhr bin ich aufgestanden, um 6.45 Uhr stand ich an der Bushaltestelle, und dann ging es los“, sagt sie und zählt auf: Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, dazwischen Besichtigungen, eine Bootsfahrt und Wanderungen. Oma Erna immer vorneweg. So wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hat. Erst um 20.30 Uhr war sie wieder zu Hause.

Erna Pigorsch kam wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Finkenau zur Welt. Ihren Ehrentag am 7. Juni hat sie bei wunderschönem Wetter draußen im Garten im Kreise der Familie und ein paar Tage später noch einmal mit 100 Gästen in der Tangstedter Mühle gefeiert. „Sie kannte jeden Gast beim Namen, hat alle einzeln begrüßt und mit ihnen über alte Zeiten gesprochen“, sagt ihre Tochter Elke Harm.

Oma Erna ist immer noch topfit. Frühstück morgens um 8 Uhr – und dann ab in die Natur. „Jeden Morgen 3000 bis 5000 Schritte“, lautet die Devise der Hobby-Schachspielerin. Sie macht regelmäßig ihre gymnastischen Übungen und hat unzählige Kilometer auf dem Fahrrad zurückgelegt. Jede Reise mit dem Verein, voriges Jahr noch in die Toskana und nach Paris, hat sie fröhlich und guter Dinge mitgemacht.

Vor einigen Wochen hat sie zu Hause noch kräftig mit einem Springseil geübt, vorwärts und rückwärts. „Das habe ich ihr jetzt verboten, sie könnte fallen und sich verletzen“, sagt ihre Tochter. Um den Alltag ihrer Mutter braucht sie sich nicht zu kümmern: Oma Erna hält die Wohnung sauber, sie wäscht und bügelt ihre Wäsche und kocht auch das Mittagessen. Kohlroulade mit Hack und Putenschnitzel mit Gemüse sind ihre Lieblingsgerichte.

Oma Erna schenkt reihum Kaffee ein und schaut aus dem Fenster. Die Erinnerung kommt. Vier Jahre alt war sie, da hat ihre Mutter sie und ihre Schwester Edith, damals sechs, an die Hand genommen. „Vom Bahnhof Barmbek haben wir meinen Vater abgeholt“, erzählt sie. „Der Krieg war vorbei, er kam aus Frankreich, wo er jahrelang in den Schützengräben gelebt hat. Wie er uns entgegenkam in seinem abgetragenen Soldatenanzug, mit Feldflasche und Rucksack – das vergesse ich nicht.“

Oma Erna, seinerzeit die Jüngste im Vier-Mädel-Haus ihrer Eltern, wusste schon immer, wo es längsgeht. In der Schule saß sie in der ersten Reihe, mit 14 Jahren betreute sie die drei Kinder eines Pastors. „Wenig später habe ich seine Frau gefragt, warum sie mich unter vielen Kandidatinnen ausgewählt hat“, erinnert sie sich. „Da hat sie mir geantwortet: Weil du so ein gesundes Kind bist und so ein rundes Gesicht hast.“

Zwei Jahre ist sie dort geblieben, hat sich stets wohlgefühlt: „Der Pastor hat mir sogar zu Weihnachten eine Uhr geschenkt, die erste in meinem Leben. Ich war so glücklich damals.“

Das war sie auch später noch, trotz der schlechten wirtschaftlichen Lage nach dem verlorenen Krieg. Erna war arbeitslos, fand keine Lehrstelle. Dann hatte sie Glück: Ein Obst- und Gemüsebauer aus Vierlande suchte eine Haushaltshilfe. Erna war eine gute Köchin und bekam im Mai 1930 den Job. Ihr Monatslohn: 40 Reichsmark. Nebenbei hatte sie Zeit für den Sport. Sie spielte Handball im Postsportverein, und dort lernte sie Erich kennen und lieben. „Wir waren lange verlobt“, erzählt sie, „so lange, bis seine Mutter auf die Hochzeit drängte.“ Im Jahr 1938 haben sie geheiratet, Klempnermeister Erich richtete dem jungen Paar in Lokstedt eine schöne Wohnung ein, 1943 kam Tochter Elke zur Welt. Das Glück schien perfekt.

Doch im Juli kamen die britischen Bomber. Sie überschütteten Hamburg mit Brandbomben und sorgten für einen Feuersturm, der viele Stadtteile verwüstete und viele Tausend Menschen in den Tod riss. Das Haus, in dem Ernas Familie lebte, wurde von einer Luftmine erwischt und zerstört.

„Wieder hatten wir Glück“, erinnert sich Oma Erna. An jenem Tag waren sie nicht zu Hause, sondern sie waren zu dem von ihnen gepachteten Grundstück in der Nähe des heutigen Krohnstiegtunnels in Niendorf gefahren. Dort hatte ihr Mann Erich mit den Vorbereitungen für den Hausbau begonnen. Als die Flieger kamen, suchte die Familie Schutz in einer Laube. Hier wohnte sie bis Kriegsende.

Auch in der Not fand Erna wieder einen Job: Viele Jahre bildete sie im Schullandheim „Erlenried“ in Großhansdorf Köchinnen aus und kochte selber, oft für mehr als hundert Kinder und Jugendliche.

Seit acht Jahren lebt sie nun in der Einliegerwohnung neben ihrer Tochter. „Hier fühle ich mich am wohlsten“, versichert sie. Jahrelang ist sie mit dem Bus nach Norderstedt gefahren und hat ihre Schwester Edith in einem Pflegeheim besucht. Sie hat sie umsorgt und gepflegt – bis Edith vor Kurzem im Alter von fast 102 Jahren verstarb.

Erna Pigorsch, 100 Jahre jung, war nie krank. Sie hat nicht geraucht, keinen Alkohol getrunken und treibt noch heute Sport. „Es war ein schönes Leben“, sagt sie. Ein Leben, das noch längst nicht vorüber ist. Im September geht Oma Erna wieder auf große Fahrt. Sie hat ihre Tochter zu einer Reise mit der „Aida“ in die Welt der norwegischen Fjorde eingeladen.