Der 21-jährige Lennart Grube aus Henstedt-Ulzburg arbeitet seit fast einem Jahr in einer Waldorfschule in Argentinien

Vor fast genau einem Jahr hob ein Flugzeug in Hamburg ab. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern. Es regnete in Strömen. In jenem Flugzeug saß ein frisch gebackener Abiturient, grün hinter den Ohren und ohne Vorstellung, was auf ihn zukommen würde. Auf der einen Seite voller Freude, freiwillig in einer Waldorfschule mitzuarbeiten, eine andere Kultur und neue Menschen kennenzulernen. Doch andererseits wehmütig, Familie, Freunde, die Freundin, ja, alles Bekannte hinter sich zu lassen. Das Ziel: El Bolsón („die Tasche“) eine kleine Tal-Stadt auf der argentinischen Seite der patagonischen Anden.

Dieser grünohrige Waldorfschüler bin ich. Damals hatte ich die etwas naive Vorstellung, mal eben ein Jahr in einem „unterentwickelten Land“ zu helfen, nebenbei eine neue Sprache zu lernen und meinen Lebenslauf etwas aufzumöbeln. Jetzt bin ich hier, im Süden des riesigen amerikanischen Kontinents, und merke: Das einzige Unterentwickelte ist meine Lebenserfahrung. Ich sehe ein, dass ich arrogant war, dachte zu wissen, was Sache ist. Doch so richtig bereitet einen die Schule nicht auf das Leben vor. Am Ende erhält man einen Schlüssel zu den Türen der Ausbildung oder der Uni. Doch auf den kommt es nicht an, die beste Schule ist das Leben – und um es zu leben, braucht man nicht viel, man muss nur den ersten Schritt wagen. Nun ist dieser internationale Jugendfreiwilligendienst schon fast vorbei. Doch ein Jahr ist länger, als ich dachte. In einem Jahr passiert so viel. Ich bin vor Kurzem 21 Jahre alt geworden und fühle mich ein ganzes Stück erwachsener. Mit den damit verbundenen Freiheiten kommt allerdings auch die Verantwortung. Die Verantwortung für sich selbst, aber besonders die für die Kinder, die zu „uns Erwachsenen“ aufsehen und das nachahmen, was wir vorleben. Auf einmal stellt sich heraus, welches Potenzial zur Veränderung ich eigentlich habe.

Wenn ich die Kinder, mit denen ich arbeite, sehe, dann bewundere ich die Kraft ihrer Vorstellung und ihre Träume. Wer keine Träume hat, kann sie auch nicht verwirklichen. Was ich versuche, den Kindern zu vermitteln, ist, dass es egal ist, wo wir herkommen, entscheidend ist, wohin wir gehen. Aber gleichzeitig fühle ich dann auch Scham, denn ich bin hier in Argentinien, komme aus einem Land, das fast einwandfrei funktioniert und versuche, anderen zu zeigen, wo es langgeht. In solchen Situationen muss ich mental einen Schritt zurücktreten und realisieren, was Argentinien mir eigentlich gibt.

Während andere Freiwillige der Organisation der „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.“ Unterkunft und Essen vertraglich zugesichert von ihrem jeweiligen Projekt erhalten, verzichte ich auf diesen Luxus. Das liegt einerseits daran, dass ich die Schule finanziell nichts kosten will und auch daran, dass ich mir so immer neue Gastfamilien suchen muss, die mich aufnehmen als Teil ihrer Familie. Diese Art des ständigen Wechsels des Hauses ist zwar unbequem, aber lässt mich das wahre argentinische Leben erleben – das Familienleben.

Inzwischen habe ich schon in zwölf verschiedenen Familien gewohnt. Die Schlafplätze reichten vom Zelt im Garten, über die Couch im Wohnzimmer bis zum eigenen Haus. Heute wohne ich in drei Familien gleichzeitig und wechsle dreimal die Woche die Unterkunft. Ich schlafe also immer nur zwei, maximal drei Nächte im selben Bett. Meine Gastfamilien teilen alles mit mir und ich mit ihnen. Jedenfalls meinen Möglichkeiten entsprechend. Wir wechseln uns ab mit dem Kochen und lernen so voneinander landestypische Mahlzeiten kennen. Bei Gesprächen bis tief in die Nacht, die wegen des späten Abendessens alltäglich für Argentinier sind, diskutieren und ergründen wir die Unterschiede zwischen unseren Ländern.

Das mit Chile zusammen südlichste Land der Welt ist geprägt von europäischen Einwanderern. Vor allem Spanier und Italiener, aber auch Deutsche haben das Land, nachdem es den indigenen Völker entrissen wurde, geprägt. Nach einer sehr bewegten politischen und wirtschaftlichen Geschichte ist Argentinien eines der wohlhabendsten Länder Südamerikas. Auf diese Weise messen sie sich aber nicht. Werte und Ideale sind hier andere, behaupten sie. Der Lebensmittelpunkt des Deutschen ist seine Arbeit, sagen sie, und ihr eigener seien die Menschen – die Familie und ihre Freunde. Mit einem Lächeln im Gesicht amüsieren sie sich, dass „die Deutschen“ etwas grimmig und verschlossen höchst effiziente Maschinen bauen und „die Argentinier" unterdessen Wein trinkend am Grill-Feuer sitzen und Gitarre spielen.

Vorurteile gibt es überall auf der Welt. Solange wir sie nicht ernst nehmen und wie die Argentinier auch über uns selbst lachen können, sind sie kein Problem. Nur wenn es die einzige Ansicht ist, die wir von anderen Menschen haben, dann müssen wir aufpassen.

Ich fühle mich nicht in der Situation, irgendjemandem irgendetwas zu lehren, denn ich lerne selber noch. Aber das, was ich bisher erlebt habe, möchte ich teilen. Ich bin unglaublich dankbar für die Menschen, die ich kennenlernen durfte, die so großzügig und warmherzig sind. Alle Schüler und Leser möchte ich ermutigen, ihren Blick auf die Welt zu erweitern. Lernt andere Länder, Kulturen und Menschen kennen – reist. Oder wie Oscar Wild es formulierte: „Reisen veredelt den Geist und räumt mit unseren Vorurteilen auf.

Weitere Informationen im Internet unter der Adresse www.lennartgrube.blogspot.com