Der gehörlosen Heidi Backhuus wird ihr letztes Geld gestohlen, die Hörhilfe des kleinen Jessems verschwindet spurlos – eine Henstedt-Ulzburger Facebook-Gruppe schaltet sich ein

Henstedt-Ulzburg . Als Heidi Backhuus an einem Donnerstagmorgen ihre frisch bezogene Wohnung am Eschenweg verlässt, macht sie sich auf den Weg, um das letzte Geld ihres Lebensgefährten von der Bank abzuheben. Die Uhr zeigt 9.30 Uhr, als sie die Sparkasse Südholstein an der Hamburger Straße betritt – noch ahnt die 51-Jährige nichts von dem Unglück, das sie zunächst verzweifeln lässt.

Als sie die Karte einführt, streikt der Geldautomat: „Stückelbetrag wird nicht ausbezahlt. Karte wird einbehalten.“ Heidi Backhuus wartet: 30 Sekunden, eine Minute – nichts passiert, das Geldfach bleibt verschlossen. Vergebens versucht sie, eine der Mitarbeiterinnen herbeizurufen. Besorgt tritt die 51-Jährige schließlich an den Kundenschalter der Bank. In diesen Sekunden passiert es: Das Geldfach am Automaten öffnet sich. Eine Frau kommt vorbei, schnappt sich das Geld, verschwindet ohne selbst Geld abzuheben – so zeigt es das Video der Überwachungskamera.

Das Geld ist weg, die Polizei glaubt nicht, dass die Diebin gefunden werden kann. Für Backhuus ist es eine Katastrophe. Vor drei Jahren verlor sie nach insgesamt neun Hörstürzen erst ihr Gehör und dann ihren Job als Lkw-Fahrerin. Mühsam hat sie sich seitdem beigebracht, von den Lippen abzulesen, aber über Funk mit dem Chef oder Kollegen sprechen kann sie nicht, bis heute hat sie keinen neuen Job gefunden. Gerade ist sie nach langem Überlegen mit ihrem Freund Bernd Bahnsen in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Er arbeitet bei einer Zeitarbeitsfirma, bekommt den Mindestlohn. Monatelang haben die beiden für ihre gemeinsame Wohnung gespart. „Für uns sind 200 Euro viel Geld“, sagt Heidi Backhuus. „Ohne sie können wir so kurz nach dem Umzug nicht mal die Stromrechnung bezahlen.“

Wieder zu Hause, macht sie ihrem Ärger in einer Henstedt-Ulzburger Facebook-Gruppe Luft. „Nachbarschaftshilfe H-U Bewegt“ nennt sich die Gruppe, 1407 Menschen sind derzeit Mitglied, stündlich werden es mehr. Um die kleinen Sorgen des Alltags soll es dort gehen. Falls jemand Hilfe bei der Autoreparatur braucht oder jemanden, der beim Umzug mit anpackt – hier soll er fündig werden.

Heidi Backhuus ist seit einem Jahr Mitglied. Wütend haut sie an diesem Tag in die Tasten: „An die Frau, die mir heute in der Kreissparkasse meine 200 Euro entwendet hat, ich gebe dir genau bis Montag Zeit, das Geld zurückzubringen.“ Mit diesen Worten beginnt ihr Post in der Gruppe. Die Diebin aber meldet sich nie.

Stattdessen wird Maurice Bornhorst, der Gründer und Administrator der Gruppe, auf ihre missliche Lage aufmerksam. Kurzentschlossen ruft er zu Spenden für Heidi Backhuus auf: „Lasst uns zeigen, dass wir echte Henstedt-Ulzburger sind“, appelliert er an die Gruppenmitglieder.

Was folgt, ist die erste große Bewährungsprobe für die Nachbarschaftshilfe. „Ich war mir überhaupt nicht sicher, dass überhaupt irgendjemand Geld überweist“, sagt Bornhorst mit einem Schmunzeln im Gesicht. Doch die Kasse klingelt. Mal sind es fünf, mal zwei Euro, die überwiesen werden. Ein Helfer spendet gar 60 Euro.

Nach nur vier Stunden ist es geschafft: Die 200 Euro sind gesammelt. Als Heidi Backhuus davon erfährt, kann sie ihr Glück kaum fassen. „Ich habe nur noch geweint“, sagt sie gerührt und lächelt. „Noch heute wird mir ganz warm ums Herz. Das war ein toller Tag.“ Heidi Backhuus hat aber nicht nur die 200 Euro wiederbekommen. Die Henstedt-Ulzburger waren so mitfühlend, dass Bornhorst die Spenden nicht rechtzeitig stoppen konnte. So investierte er kurzerhand in Gutscheine für das Hamburger Miniaturwunderland und eine Hafenrundfahrt. Den großen Tag in Hamburg haben Heidi Backhuus und ihr Lebensgefährte bereits geplant – nur das Wetter muss noch mitspielen.

Mit seiner Nachbarschaftshilfe hat Maurice Bornhorst in Henstedt-Ulzburg für viel Wirbel gesorgt. Die Idee dazu ist ihm während des schweren Sturms „Xaver“ gekommen. Mit der Gruppe wollte er die Aufräumarbeiten koordinieren. Dass es so gut klappt, hatte er nie erwartet. Ganze Umzüge wurden bereits organisiert, einer alten Dame halfen Gruppenmitglieder gar, ihr vom Sturm stark beschädigtes Dach zu reparieren.

Das jüngste Beispiel für erfolgreiche Henstedt-Ulzburger Nachbarschaftshilfe ist erst acht Jahre alt und heißt Jessem Abbassi. Der begeisterte Fußballspieler braucht eine Hörhilfe; sonst kann er die Störgeräusche des täglichen Lebens nicht herausfiltern. Besonders im Schulunterricht ist er auf die Hörhilfe angewiesen. Dort trägt seine Lehrerin normalerweise einen Sender – so kann sich Jessem auf ihre Worte konzentrieren. Beim Fest zum 100-jährigen Bestehens der Grundschule Ulzburg jedoch verschwand dieser Sender. Keine Versicherung wollte die 869 Euro zahlen, Jessem konnte dem Unterricht nicht mehr richtig folgen.

Wieder klemmte sich Maurice Bornhorst, der hauptberuflich für den ADAC arbeitet, hinter die Sache. Diesmal wurde er noch schneller fündig: Das Taxiunternehmen 1411 aus Henstedt-Ulzburg übernahm die volle Summe. Ein neuer Sender ist schon bestellt, Jessem kann wieder mitmischen im Unterricht. Eine Hintertür aber lässt sich das Schlitzohr doch noch offen: „Wenn es zu langweilig ist, stelle ich die Hörhilfe einfach ab“, sagt er und grinst schelmisch.

Mutter Sandra Abbassi ist trotz solcher überraschenden Einblicke heilfroh über die Spende. Zusammen mit Heidi Backhuus hat sie Maurice Bornhorst nun für den Henstedt-Ulzburger Bürgerpreis vorgeschlagen. Heidi Backhuus geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie fordert: „Diese Nachbarschaftshilfe darf niemals sterben!“