Die lange Lesenacht in der Rathaus-Bücherei bot sieben Stunden lang Gegenwartsliteratur

Norderstedt. Monatelang hat Wolfgang Dellke wieder Geschichten ausgewählt, verworfen, mit den Vorlesern über Texte diskutiert, mit zwei Musikern Kompositionen zu den Texten gesucht und das Programm für die lange Lesenacht zum Welttag des Buches zusammengestellt. Eine Sisyphusarbeit, der sich der Buchhändler aber jedes Jahr voll Leidenschaft stellt.

Unter dem Motto „Das ver(w)irrte Subjekt“ wurde diesmal Gegenwartsliteratur deutschsprachiger Autorinnen und Autoren gelesen, eine Literatur, die so vielfach als langweilig gescholten wurde. Die neue Generation kann endlich wieder erzählen, bringt fundiert und frech mutige und tabulose Themen. Auffällig ist auch, dass viele Autoren der dritten Generation nach dem Holocaust, dem deutschen Kulturbruch, die Vergangenheit neu erzählen, sich auf die Spuren ihrer Großeltern und Eltern wagen und deren Geschichte schlüssig und ohne Klage, dafür umso berührender mit dem grauenhaften Geschehen der Shoah verknüpfen.

Katja Petrowskaja gehört dazu. Die 44-Jährige aus Kiew schreibt Deutsch und ergründete in ihrer romanhaften Geschichten-Sammlung „Vielleicht Esther“ (Suhrkamp-Verlag, 285 Seiten, 19,95 Euro) die Geschichte ihrer jüdischen Familie. Dafür erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Die Texte lasen wieder Norderstedter Bürger. „Bei der Lesenacht treffen sich wieder die Vorleser der Stadt, das bringt doch jedes Mal viel Freude“, sagte Joachim Tegtmeyer, wie Vorleser Friedhelm Schirmer Pastor im Ruhestand. Tegtmeyers Interpretation des Romans „Morbus Kitahara“ von Christoph Ransmayr ging aufgrund seiner großen Anteilnahme am Schicksal der Protagonisten sehr zu Herzen.

Schirmer dagegen las sehr unterhaltsam aus Jochen Schmidts Erzählung „Triumphgemüse“ die Geschichte „Harnusch mäht als wärs ein Tanz“ und lässt die Charaktere des alten Harnusch, seiner armen Ehefrau, seines pedantischen Nachbarn und dem Sensenmann durch seine pointierte, farbenreiche Leseweise bildlich erscheinen.

Wiederum ergreifend, weil sie ihre Rührung nicht verbergen konnte und wollte, rezitierte Norderstedts Plattdeutsch-Autorin Christa Heise-Batt aus Robert Seethalters Roman „Der Trafikant“. 1937 schickt Frau Huchel ihren 17jährigen Sohn Franz nach Wien. Der Trafikant (Kioskbesitzer) Otto Trsnjek stellt ihn ein, und Franz lernt unter anderem den „Deppendoktor“ Sigmund Freud kennen. Zeitgleich wird Franz Zeuge, wie Wiens Juden, die in dem Kiosk einkaufen, verschwinden. Auch Otto Trsnjek wird von der Gestapo abgeholt. „Ein weiches Buch über eine harte Zeit“, sagte Dellke.

Zu den Vorlesern gehörten Stadtpräsidentin Kathrin Oehme, die aus Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ las, und Vorleserin Inka Hahn. Sie las aus „Moskauer Eis“ von Annett Gröschner teils im Berliner Slang und brachte den Lokal-Kolorit zum Ausdruck. Zu den temperamentvollen Vorlesern gehört Hans-Dieter Pagalies, der eine Passage aus Sasa Stanisics Roman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ mit Wonne und Lust las und aus der Fressorgie zum Klofest ein Hör-Opus machte. Stars des Abends aber waren Bariton-Sänger Steffen Krause und Pianist Rainer Lankau, die ebenfalls bis nach 1 Uhr nachts durchhielten.