Norderstedter Pflegeschüler proben mit Dichter Lars Ruppel das Poesie-Konzept Weckworte vor Dementen

Festgemauert in der Erden, Steht die Form aus Lehm gebrannt.“ Lars Ruppel spricht langsam, laut, betont die Silben im Vier-Viertel-Takt, klatscht dazu. „Heute muss die Glocke werden, frisch, Gesellen, seid zur Hand!“ Und Schiller wirkt, wie ein Sesam-Öffne-Dich zur Seele. Auf den Lippen der dementen Frauen und Herren im Sitzkreis des Seniorenzentrums Garstedt formen sich die vertrauten schillerschen Worte, ihre Hände heben und senken sich im Takt auf den Oberschenkeln. Für die dementen Menschen beginnt die „literarische Butterfahrt“, wie Ruppel später sagt, gesteuert von den Erinnerungen, die am tiefsten sitzen, die das Vergessen noch nicht gefressen hat und die im Angst einflößenden Sturm der sich auflösenden Persönlichkeit einen letzten Halt im Hier und Jetzt bieten.

Vielleicht hatte den Senioren vor 60 oder 70 Jahren ein unerbittlicher Deutsch-Lehrer das Lied von der „Glocke“ eingetrichtert, vielleicht hatten es die Eltern gerne rezitiert. Auf jeden Fall sitzen die Worte. Und werden nun zu Weckworten, sagt Lars Ruppel. Der 28-jährige Hesse antwortet auf die Frage, was er so macht, er sei Dichter. Und dieser ganz wunderbaren Bestimmung folgend reitet er durch Nacht und Wind, von einem Seniorenzentrum zum nächsten, um die Kraft der Poesie wirken zu lassen, um Menschen am Reim zu vereinen, ganz gleich ob dement oder nicht.

Es sei ein Grundbedürfnis, ja ein Grundrecht des Dementen, dass man ihm in seiner Pflegebedürftigkeit nicht nur den Hintern wischt, sondern auch für die Stimulanz der Synapsen Sorge trägt. Mit der Erfahrung, dass Dichter in Amerika die „Alz-Poetry“ schon lange erfolgreich praktizieren, übersetzt Ruppel die Idee 2009 nach Deutschland. Er, der sonst auf den Bühnen des pop-kulturellen Poetry-Slams Erfolge feiert und zu den renommiertesten Vertretern dieser Kunst in Deutschland zählt, entwickelte das Konzept der Weckworte, mit dem er sich nun an die wendet, die täglich ganz eng und intim mit dementen Menschen leben und arbeiten – die Pflegekräfte.

Sie sollen lernen, das Gedicht als ein Schwert zu begreifen, mit dem sie sich im Dschungel des dementen Gehirns einen Pfad zum Bewusstsein des Menschen schlagen können. Die Norderstedter Stadtteilbücherei in Garstedt hatte Ruppel die Möglichkeit geboten, einen Workshop für Pflegeschüler des Instituts für Berufliche Aus- und Fortbildung (IBAF) zu geben. Zwei Stunden bevor Ruppel im Garstedter Seniorenzentrum zwischen den Dementen steht, lehrt er dem guten Dutzend Pflegeschülern in der Bücherei was es bedeutet, ein Gedicht nicht herunterzuleiern, sondern mit Wort und Tat zum Leben zu erwecken, es vorzutragen, es zu gestikulieren, es im Stile eines Schauspielers zu interpretieren.

Der poetische Crash-Kursus führt die Schüler im Anschluss ratlos in die Senioren-Runde in Garstedt. Genauso staunend wie die dementen Bewohner sitzen sie im Kreis und blicken auf Lars Ruppel, der in seiner entwaffnenden Lieblingsenkelhaftigkeit die Herzen im Sturm nimmt, der mit Blickkontakt, zärtlichem Anfassen und gemeinsam mit seinen Mitstreitern, dem Büblein auf dem Eise, dem blond gelockten Jüngling mit kohlrabenschwarzem Haar und dem Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland auf der geistigen Autobahn ins emotional besetzte Restgedächtnis der Menschen rauscht.

Dann versuchen es die Schüler selbst, tragen zaghaft und hölzern vor, kaum einer traut sich die große Geste. Doch selbst jetzt erleben sie, wie Menschen, die zwar nicht wissen, worum es hier eigentlich geht, wer genau sie selbst und diese ganzen anderen Menschen sind, plötzlich lauthals lachen und Spaß haben. Sie erleben einen zauberhaften alten Herrn, der mit Berliner Schnauze dem Dichter Ruppel wohlformuliert Paroli bietet und ein Bonmot nach dem anderen abfeuert. Sie erleben vermeintlich Teilnahmslose, die wieder teilnehmen, die am Ende der Dreiviertelstunde mit Lars Ruppel sagen: „Du kannst wiederkommen!

Doch Ruppel wird nicht wiederkommen. Wenn der Jungdichter längst schon wieder im In- oder Ausland Poetry slammt, dann müssen sich die Norderstedter Pflegeschüler auf ihren Bühnen beweisen, den Pflegestationen und Wohngruppen für Demente. Und sie müssen versuchen, sich im Sekundentakt des Pflegealltags, mit seinen gestiegenen Anforderungen, seinem Stress und seiner immer noch lausigen Bezahlung an die Worte von Lars Ruppel zu erinnern, wenn sie bei der Morgen- oder Abendwäsche mit dem Handschuh und der Waschlotion vor den alten Menschen stehen: „Traut euch! Beginnt! Ihr müsst experimentieren!“

Bei der Nachbesprechung im Garstedter Seniorenzentrum treten all die Zweifel der jungen Leute zutage. Die Skepsis, ob sich das Erlernte und Gesehene im Alltag umsetzen lasse. Es schwingt die Unsicherheit der Schüler mit, ob sie der Mammutaufgabe Pflege gewachsen sind. Denn wer Weckworte erlebt hat, dem bleibt keine Entschuldigung. Ob mit Poesie oder ohne: Es ist ein schreckliches Defizit, wenn bei Dementen die intellektuelle und emotionale Grundversorgung zu kurz kommt.

„Ich habe das ja schon mal versucht“, sagt eine Pflegeschülerin schließlich. „Bei einer stark dementen Frau, die immer sehr aufgeregt und widerwillig bei der Körperpflege war. Ich habe ihr ein Kindergedicht vorgetragen. Sie sagte ,Das ist toll, das ist süß!’ und wurde ganz ruhig. Das hat mich sehr berührt. Da bekommt man was zurück, das tiefste Innerste.“