Als Student saß Friedhelm Thiedig in der DDR im Gefängnis, weil er sich der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkiet“ angeschlossen hatte

Norderstedt. Mit 19 Jahren fängt für die meisten von uns das selbstbestimmte Leben erst so richtig an. Als mein Großvater, Friedhelm Thiedig, 19 Jahre alt war und in der ehemaligen DDR studierte, landete er in Untersuchungshaft, ohne zu wissen, für wie lange. Über diese Haftzeit hat mir mein Großvater, der mittlerweile 80 Jahre alt ist, immer viel erzählt. Für mich ist es ein interessantes Thema – für ihn sind es eher negative Erinnerungen.

Wie übersteht man eine solche Zeit, ohne wahnsinnig zu werden? Eine Zeit, in der mein Großvater verzweifelt war und sein Studium nicht fortsetzen konnte. Als mein Großvater am 16.April 1952 aus seinem Studentenzimmer in Halle abgeführt wurde und im Gefängnis Roter Ochse eingesperrt wurde, stellte er sich genau diese Frage. Nur wenige Wochen zuvor hatte er sich einer studentischen Widerstandsgruppe, der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ ( KgU), angeschlossen. Er verteilte die in Westberlin gedruckte und heimlich in die DDR geschmuggelte Zeitung „Tarantel“, in welcher das damalige Regime unter Ulbricht und auch Stalin lächerlich gemacht wurden.

Zu Beginn seiner Untersuchungshaft fragte er seinen Vernehmer, wie lange er in Einzelhaft verbringen müsse. Der Mann antwortete, so berichtet mein Großvater, dass er nun genug Zeit haben würde, um als erklärter Feind der DDR die alten Zuchthäuser zu studieren. In seiner Zelle mit einer Größe von sechs Quadratmetern gab es ein Fenster mit Holzverblendung, ein eisernes Bettgestell mit einem alten Strohsack als Matratze und einer Wolldecke und zwei Heizungsohre, die senkrecht durch die Zelle führten. Außerdem gab es noch ein kleines Brett als Ablage für die Schüssel, in der das Essen gebracht wurde.

Liegen war nur zwischen 22 und 6Uhr gestattet, in dieser Zeit fanden auch die langen und unangenehmen Verhöre statt. Es brannte immer Licht, und am Tage wurde alle paar Minuten kontrolliert, ob er nicht eingeschlafen war oder sich sonst irgendwie falsch verhielt, denn das Sitzen beispielsweise war auch nur auf der Bettkante erlaubt. Mein Großvater hatte weder etwas zum Schreiben, noch besaß er ein Buch oder sonstige Gegenstände, die ihm die Zeit in der Zelle etwas verkürzt hätten. Für die Notdurft stand ein Eimer mit ätzendem Chlorkalk zur Verfügung. Pro Tag gab es ein Blatt Klopapier.

Für mich ist das Folter: Mein Großvater litt durch die nächtlichen Befragungen unter extremen Schlafentzug, er hatte über vier Monate keinen Kontakt zur Außenwelt, seine Mutter wusste weder, wo er war, noch, ob er überhaupt noch lebte. Sein Studienkollege hatte nur mitbekommen, dass er von Männern in Zivil abgeholt worden war. Mein Großvater hat mir immer wieder erzählt, was für eine Qual jede Stunde, die er in Einsamkeit in der Zelle verbringen musste, für ihn bedeutete. Sein größter Wunsch war, wieder studieren zu können.

Es gab verschiedene Aspekte, die meinem Großvater geholfen haben, die Haftzeit zu überstehen. Der wohl Wichtigste, wie er selbst behauptet, war, dass er sich nie hat kleinkriegen lassen. „Sie haben ihre Gesetze, sie haben die Macht, also ist ein Aufstand in der Zelle sinnlos“, sagte er sich und versuchte, möglichst konfliktarm durchzukommen. Sein Motto lautete: „Ich habe mich nicht kleinkriegen lassen, das hat mich stark gemacht.“

Gleichzeitig hat mein Großvater in der U-Haft jede Gelegenheit dazu genutzt, sein Gehirn zu trainieren. Mit Hilfe ihm bekannter Längen, wie etwa seiner Körpergröße oder seiner Daumenbreite, erstellte er ein Längenmaß, indem er einen Faden aus seiner Decke auf zwei Meter zusammenknüpfte. Diesen unterteilte er dann in zwanzig gleichgroße Teile, durch diese Aufteilung konnte er dann aus einem Halm seines Strohsackes ein ziemlich genaues Maß fertigen und unter anderem die Größe seiner Zelle ausmessen. Diese Längenberechnungen beschäftigten ihn über zwei Tage, in denen er seine Probleme größtenteils ausblenden konnte.

„Erinnerungen haben mir sehr geholfen. So habe ich versucht, mich systematisch an meine Kindheit zu erinnern, Jahr für Jahr“, erzählt mein Großvater. So fing er an, sich an Kindheitserlebnisse aus seinem dritten Lebensjahr zu erinnern, dabei ging er stundenlang so detailliert vor, dass er in seiner gesamten Untersuchungshaftzeit nur bis zum 15. Lebensjahr kam. „Ich habe nie wieder in meinem Leben so viel Zeit zum Nachdenken gehabt“, sagt er heute. Auch den Lernstoff aus seinen beiden Semestern sowie mathematische Grundkenntnisse wie das große Einmaleins hat er errechnet und auswendig gelernt. Um seinen Körper fit zu halten, ist er in seiner winzigen Zelle täglich etwa zwei Kilometer gegangen. Einen Kilometer links herum und einen rechts herum, dabei hat er sich an eine Schrittfolge gehalten, die aus seinem Studium erinnerte.

Am 25. Oktober 1952 wurde mein Großvater dann in die Strafvollzugsanstalt Torgau überführt. Somit befand er sich sechs Monate in Einzelhaft, eine Zeit, in der er viel über sich selbst und viel für sein weiteres Leben lernte.

Mein Großvater Friedhelm Thiedig musste noch drei weitere Jahre seine Haft absitzen. Nach seiner Entlassung wurde ihm ein Ehrverlust mit einer Aufenthaltsbeschränkung auf den Bezirk Erfurt auferlegt. Der ehemalige Student bekam einen Job als „Schuhcremeschachtelabfüller“ angeboten. Nach nur einer Woche floh er nachts über Berlin in den Westen der Republik und begann dann, in Tübingen zu studieren. Heute sagt er: „Ich hätte nie wieder in der DDR studieren dürfen und wäre immer ein Feind ohne Aussichten geblieben. Schon vor meiner Verhaftung dachte ich daran zu fliehen. Als ich dann entlassen wurde, gab es für mich keine andere Lösung. Da war mein Wunsch zu studieren größer als die Angst, wieder eingesperrt zu werden.“

Ich bin stolz auf meinen Großvater, der vor mehr als 60 Jahren viel Mut und Tapferkeit bewiesen hat, als er sich der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeiot anschloss“ – obwohl er wusste, wie gefährlich das war.

Auf dieser Seite lesen Sie heute Artikel, die Schülerinnen und Schüler des 11. Jahrgangs des Coppernicus-Gymnasiums in Norderstedt für die Abendblatt-Aktion „Schüler machen Zeitung“ verfasst haben. Betreut wurden die Schüler von der Lehrerin Claudia Winkelmann.