Bertold Brecht erzählt von der „unwürdigen Greisin“, einer 72 Jahre alten Frau, die nach dem Tod ihres Mannes und nachdem sie über Jahrzehnte ihren familiären Pflichten nachgekommen war, viele durch ein merkwürdiges Verhalten irritierte.

Vor allem die Verwandten, die noch immer Erwartungen an sie haben zu können meinten. Oder die Kinder, die sich in ihrem schlechten Gewissen über ihre wenig entwickelte Bereitschaft austauschten, für die Frau zu sorgen, die den größten Teil ihres Lebens für sie dagewesen war.

Sie beginnt, ins Kino zu gehen, das ist in Brechts Erzählung weitaus verruchter, als der Besuch eines Lichtspielhauses heute, begibt sich in die Gesellschaft eines mäßig oder eher zweifelhaft beleumundeten Flickschusters, der aber viel erlebt hatte und in fröhlichen Gesellschaften zu erzählen weiß, bezieht oft ein geistesschwaches Mädchen in ihre Aktivitäten und Ausflüge ein, die sie nicht selten mit der Kutsche unternimmt. Und sie findet Gefallen am Rotwein, den sie in Maßen, aber zu einigen Gelegenheiten zu sich nimmt. Sie wohnt allein, ist aber unter Menschen, wann immer sie will, geht gelegentlich zum Essen aus, lebt nicht üppig, hält aber ihr Geld nicht mehr zusammen, beleiht vielmehr ihr Haus, besucht Pferderennen und richtet jenem Flickschuster eine Werkstatt ein.

Eine Frau schert aus ihrem ersten Leben aus und wird für eine kurze letzte Zeit erstmals die Autorin ihres bis dahin „ungelebten Lebens“ und der freigelegten Wünsche, die Unverständigen nur als bedenklich erscheinen können. Sie ist dabei großzügig, ungewöhnlich und auf eine rätselhafte Weise offenbar glücklich. Sie schert sich nicht um Missverständnisse und enttäuschte Erwartungen. Ganz souverän und in frisch erkosteter Freiheit bewegt sich die eben doch würdige Greisin in einer selbst gewählten Balance aus Geben und Nehmen. „Keine lebt allein, jede wird von anderen getragen. Es ist ja nicht so, dass ich nur gebe, denn wenn ich wirklich gebe, dann nehme ich auch. Geben und Nehmen ist eigentlich ein Vollzug, für den wir merkwürdigerweise immer zwei Wörter brauchen“, sagt Dorothee Sölle, als ob sie sich mit der Greisin im Kino ausgetauscht hätte.

Michael Schirmer, Pastor in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Vicelin-Schalom in Norderstedt