Eine Glosse von Wolfgang Klietz

Die Bewohner der Esso-Häuser auf St. Pauli haben es zuerst bemerkt. Da wackelte die Wand, dann gab es Putz und der Beton war endgültig futsch. Eine üble Heuschrecken-Bande war angeblich schuld, die das Geld lieber auf den Caymans vermehren wollte, als es auf dem Kiez zu investieren. Das sagen jedenfalls die Berufsempörten, die von der globalen Dimension vibrierender Etagen im Rotlichtviertel keine Ahnung haben.

Doch der Fall liegt ganz anders. Denn das Schicksal hat nicht nur an der Reeperbahn zugeschlagen. Auch bei uns. Man muss nur aus dem Fenster unserer Redaktion sehen, um die Veränderungen zu bemerken, die den gesamten Norden, wenn nicht gar die ganze Welt erschüttern: Es wird nicht mehr hell.

Morgens um acht Uhr geht das dunkle in ein fahles Grau über, um gegen Mittag bereits wieder zur Dunkelheit anzusetzen, die als Fanal in einem Schwarz ohnegleichen endet. Die Weihnachtsbeleuchtung brennt sich einen Wolf, kommt aber nicht gegen die vorweihnachtliche Finsternis an – Dunkeltuten auf allen Tannenspitzen. Nur noch Glühwein lässt die Bäckchen leuchten. Knecht Ruprecht muss nicht mehr auf dem Weg vom Lappland zu uns die dicken Socken wechseln, und die Sommerreifenindustrie kann Kurzarbeit anmelden.

Und ich weiß auch, warum: Wir leben jetzt hoch im Norden. Der Ruck, der durch St. Pauli ging, war die Folge einer spontanen Kontinentalverschiebung. Norderstedt und der Rest der Welt liegen jetzt nördlich des Polarkreises, wo Polarfuchs, Polarhase und Arved Fuchs sich gute Nacht sagen. Dort geht im Winter die Sonne niemals auf.

Verantwortlich sind vermutlich wieder mal die Russen. Schon verdächtig, dass sie vom Hüpfer unseres Erdteils schon vorher wussten. Winterspiele im Badeort Sotschi zwischen Strand und Palmen – was haben wir damals gelacht. Bald liegt dort Schnee. Und die Sonne scheint auf Putin.