Als die Nazis an die Macht kamen, war Avner Gruber noch ein Kind. Kaltenkirchener Schülern berichtete der Jude, wie er den Holocaust überlebte

Kaltenkirchen . Er war noch ein Kind und wollte eine junge Frau retten. Und ihr Baby, das sie im Lager geboren hatte. Sie fanden einen Fluchtweg und konnten entkommen. Doch Soldaten stellten sie, deutsche Soldaten. Sie warfen das Baby an eine Wand und vergewaltigten die Frau. Ein Soldat hielt ihn fest, er musste zusehen. Sie erschossen die Frau. Er entkam.

Avner Gruber ist dieser Junge. Zwölf Jahre war er alt, und es war in der Bukowina, seiner rumänischen Heimat. 1941 wurde er mit seiner Familie ins Konzentrationslager Mogilev-Podolsk verschleppt. Als 15-Jähriger kehrte er zurück. Bis dahin wäre er mehrmals fast gestorben. Avner Gruber ist Jude. Und das passte weder den Deutschen noch den Rumänen oder Sowjets. Jetzt erzählte der pensionierte Lehrer Schülerinnen und Schülern der Oberstufe des Gymnasiums Kaltenkirchen aus seiner Jugend. Einer Jugend, die keine war. Sondern Entsetzen, Hunger und Tod.

Die Schüler hörten ihm zu. Von 11 bis fast 14.30 Uhr, fast ohne Pause. Avner Gruber sprach mal fest. Dann wieder leise. Heute noch, nach mehr als 70 Jahren, stockt dem mittlerweile 85-Jährigen die Stimme, wenn er erzählt und ihn seine Vergangenheit einholt.

„Nachts wache ich manchmal von meinen eigenen Schreien auf, immer noch“, sagt er. Vor allem, wenn er sich an die toten Soldaten nach einem Gemetzel am Dnjestr erinnert. „Ein kleiner Junge fuchtelte mit einer Pistole herum, und sagte zu mir, dass es jede Menge davon am Fluss gäbe“, erzählt Gruber.

Er ging zum Dnejstr und sah tote Soldaten. Aufgetürmt zu Bergen. Er war so erschüttert, dass er mit den Soldaten redete: „Du hast Kinder zu Hause. Und du eine Frau. Und du eine Mutter. Die warten auf dich.“ Es waren deutsche Soldaten.

Eine Bäuerin rettete ihn vor dem Erfrieren und päppelte ihn wieder auf

„Ich habe wohl eine dreiviertel Stunde mit den Toten geredet. An die Pistole habe ich nicht mehr gedacht.“ Da war er 15 Jahre alt, und eine Odyssee der Vertreibung, durch KZs und der Flucht lag hinter ihm. Immer wieder fand der dürre Junge ein Schlupfloch, konnte fliehen. Immer wieder wurde er aufgegriffen, fast zu Tode geprügelt: „Oft haben Einsatzkommandos wahllos in die Menge der Deportierten geschossen, und einmal musste ich zusehen, wie ein Mann mit einer Eisenstange erschlagen wurde, bis nichts mehr von ihm zu sehen war.“

Bei dem Versuch, wieder in seine Heimatstadt zu kommen, hat ihn eine alte Bäuerin vor dem Erfrieren gerettet und aufgepäppelt. Sie konnte nicht lesen, hatte aber das Neue Testament. Er durfte so lange bei ihr bleiben, bis er es ihr ganz vorgelesen hatte. „Ich las sehr sehr langsam“, sagt Avner Gruber.

Mit seiner Familie wurde er immer weiter getrieben gen Osten, mit Peitschenhieben. Wer nicht mehr gehen konnte, wurde erschossen. Zu essen gab es einen Löffel Erbensuppe. Abends. Oft auch gar nichts. Geschlafen wurde auf dem Fußboden. Und alle Gefangenen starrten vor Schmutz, stanken, wurden krank, starben. „Die Soldaten hatten Spaß daran, Menschen zu quälen und zu foltern“, erinnert sich Gruber, und obwohl er sehr leise spricht, hören alle Schüler gebannt zu, können das Gehörte kaum begreifen, kaum fassen.

„Was ich euch hier in drei Stunden berichte, ist eine Zeit von mehr als drei Jahren, drei Jahre in der furchtbarsten Zeit Europas“, sagt der pensionierte Lehrer, der trotz einer starken Gehbehinderung am Pult steht und erzählt. 30 Mitglieder seiner Familie liegen irgendwo in der Bukowina vergraben, verscharrt ohne Grab.

„Das ist wie ein furchtbarer Film, es ist unfassbar, dass Menschen so grausam sind“, sagt Inken, 18 Jahre alt. „Herr Gruber steht vor uns, und ihm ist das alles zugestoßen, das ist furchtbar. Aber ich finde es sehr gut, dass uns die Schule die Möglichkeit gibt, das so authentisch zu erfahren“, sagt Jule, 18. „Ich habe wie gebannt zugehört und muss das erst einmal verarbeiten“, sagt Andrea, 19. „Das ist sehr ergreifend und gibt uns aus erster Hand eine völlig andere Sichtweise auf die Hitler-Verbrechen als der Geschichtsunterricht“, sagt Alex, 20. „Durch die Erzählung eines Zeitzeugen wird die Geschichte lebendig, es ist fast unvorstellbar, dass Menschen solche Verbrechen begehen“, sagt Sahli, 19. „Die Soldaten waren wie Tiere“, sagt Philipp, 18 Jahre.

Nach dem Krieg studierte Avner Gruber Medizin und ging nach Israel

Wie aber ging Avner Grubers Leben nach dem Holocaust weiter, wollten die Schüler wissen. Er machte sein Abitur, ging nach Bukarest, begann 1948, Medizin zu studieren. Der Krieg war vorbei, der Antisemitismus geblieben, Gruber wanderte nach Israel aus.

„Für mich und die, die zu meiner Zeit nach Israel gekommen sind, war dieses Land die einzige Chance“, sagt der 85-Jährige. Er kam zum Militär, baute israelische Dörfer auf, studierte Jura bis zum Abschluss, doch ohne große Aussichten auf Erfolg im Beruf. Er ging nach Frankreich, wurde dort von anderen Emigranten bedroht, floh zu einem Freund nach Deutschland, nach Berlin. Widersinnig nach dem Holocaust. „Aber so war es“, sagt Gruber.

Er hat seine KZ-Vergangenheit radikal verdrängt, sonst hätte er in Berlin nicht leben können: „Ich sah am Anfang in jedem Deutschen einen Mörder.“ Er studierte Ernährungswissenschaften.

„Verliert man nicht jede Hoffnung?“, fragte Jule. „Was der Verstand nicht macht, das macht die Zeit“, antwortete Gruber. Er riet den Schülern: „Gebt nie auf, habt ein Ziel und verfolgt es, verlasst euch nur auf euch selbst.“ Und: „Ich habe in vielen Ländern gelebt und kann heute sagen: In keinem Land lebt man so schön wie in Deutschland.“

Seine Erinnerungen schrieb Avner Gruber unter dem Pseudonym Adi Herzog mit der Autorin Ursula Brauer unter dem Titel „Kind im Niemandsland – Ein jüdisches Leben“ auf. Europäische Verlagsanstalt, zu beziehen übers Internet.