Eine Glosse von Andreas Burgmayer

Heute ist nicht irgendein Tag, heute ist ein Tag der Geschichte, ein Moment in der Zeit. Es geht um die Menschwerdung, um die Übernahme der Staffel im kulturhistorischen Kontext der Evolution, um die Bewahrung eines über die Jahrhunderte gepflegten Initiationsritus der Menschheit. Denn heute, an diesem Tag, zu dieser Stunde – lässt sich meine neunjährige Tochter im Hinterzimmer eines Juwelierladens Ohrlöcher stechen.

Ich möchte kein Gelächter hören. Ich habe nicht übertrieben. Blicken Sie mit den Augen des Kindes in die Welt. Dann haben Sie die Dimension des Unterfangens. Da lässt sich jemand freiwillig ein Körperteil durchbohren. Um sich silberne Dinger mit Strass reinzuhängen. Das muss man als Kind in seiner kompletten Sinnlosigkeit erst mal erfassen und dann kulturhistorisch so aufladen, dass es einem ansatzweise ästhetisch und erstrebenswert vorkommt. Wir haben ihr das nicht eingeredet, sie kam ganz von alleine drauf. Na gut – Mama hat die Löcher auch.

Die Kleine redet seit Wochen von nichts anderem. Laufend sollte ich sie irgendwo kneifen, damit sie erahnen kann, wie weh Ohrlöcherstechen tut. In unbeobachteten Momenten bohrte sie die Zinken einer Gabel tief in ihre Ohrläppchen. Im Fernsehen haben sie Menschen aus Afrika gezeigt, die tellergroße Scheiben in ihren Kalamaris-Ring-großen Ohrlappen hängen hatten. Dem Kind stand der Mund weit offen.

Nun hat sie sich entschlossen, es zu wagen. Mit der Pistole will sie es, nicht mit der Nadel. Ich kenne den Unterschied nicht. Ich hoffe nur, dass sie in den kommenden Jahren nicht noch mehr an sich durchbohren und durchstechen möchte und irgendwann als Eisenwagenhandlung durch die Gegend läuft.