Karl Michna hat sein Leben aufgeschrieben. Er wächst in der oberschlesischen Provinz auf, genießt das Soldaten-Leben in Frankreich und erlebt immer wieder kurze, aber heftige Liebesbeziehungen

Er hat einen Wunsch seiner Kinder erfüllt und einfach mal sein Leben aufgeschrieben. „Das ist mir einfach so aus dem Kopf geflossen“, sagt Karl Michna. Was ihm da seine Erinnerung ganz problemlos in die Tastatur diktiert hat, waren immerhin 85 Jahre. Inzwischen ist der Schlesier 94 und immer noch fit. „Ich habe eine Frau, die 20 Jahre jünger ist als ich, da muss ich ja mithalten“, sagt der Senior, und seine Augen flitzen hin und her, der Mund zeigt ein verschmitztes Lächeln. Der Norderstedter zählt zu einer wachsenden Zahl Älterer, die festhalten, was ihren Lebensweg bestimmt hat.

Meist sind es Kinder und Enkel, die sie dazu motivieren, so wie bei Manfred Liedtke – er hat zuerst notiert, wie er aufgewachsen ist, an seine Kindheit im Schloss, das Jungvolk, für das er brannte, die 10,5er-Flak-Batterie, an der er als 16-Jähriger auf britische Bomber schoss, den Tigerpanzer, den er führte, den langjährigen Freund, der durch einen Splitter in seinen Armen starb, aber auch an die rote Inge, den Hausschlachter und das geliebte Angeln.

All das hat der Autobiograf auf Kassetten gesprochen, seine Tochter Ursula hat Worte und Sätze wieder zu Papier gebracht, ein 400 Seiten starkes Buch daraus gemacht und das Werk ihrem Vater zu seinem 85. Geburtstag geschenkt (wir berichteten). Zwei Wege, Stationen eins Lebensweges festzuhalten. Beide haben einfach aufgeschrieben, was das Gedächtnis preisgab. Doch nicht für jeden ist es so selbstverständlich, sich vor ein leeres Blatt Papier oder an die Tastatur des PC zu setzen und einfach Buchstaben an Buchstaben zu fügen. „Natürlich gibt es Menschen , die sich da schwer tun, eine regelrechte Schreibhemmung haben“, sagt Ingrid Weißmann aus Henstedt-Ulzburg, Autorin vieler Bücher und eine Frau, die das Einmaleins des Schreibens in Schreibwerkstätten, Seminaren und Workshops weiter gegeben hat (s. nebenstehende Tipps).

„Oft ist es die Generation der 40-Jährigen, die den Wunsch habt, die Vergangenheit authentisch vermittelt zu bekommen. Als sie jünger waren, haben sie vergessen, Oma und Opa zu fragen, und jetzt ist es zu spät“, sagt Hartmut Kennhöfer von der Norderstedter Erinnerungswerkstatt, eine freie und offene Gruppe von Senioren aus Norderstedt und Umgebung, die Erlebtes in Erinnerung zurückrufen, aufschreiben, diskutieren und ins Internet stellen. Sie wollen den nachfolgenden Generationen erzählen, was sie erlebt, gedacht und empfunden haben, als es noch keinen Fernseher, kein Handy, keine PlayStation und keinen PC gab. Sie sind zwar Zeitzeugen, aber keine Historiker. „Unsere Autoren erzählen wahre Geschichten, die das Leben schrieb, ausschließlich Selbsterlebtes und nichts aus zweiter Hand. Schlussfolgerungen und Wertungen überlassen sie den Lesern“, sagt Kennhöfer.

Genau so sind die beiden Norderstedter vorgegangen. Sie beschreiben, wie sich Werte und Ansichten verändern. Der eine, Liedtke, lässt sich zunächst begeistern von Hitlers Jungvolk, erlebt die Unmenschlichkeit des Krieges und wendet sich ab von einer menschenverachtenden Ideologie. Der andere, Michna, bleibt distanziert, lange Zivilist ohne Parteiabzeichen, der sich in der „Gegenwart der Braunhemden recht unwohl“ fühlte. Auch bei ihm spielen Nazi-Herrschaft und Zweiter Weltkrieg eine untergeordnete Rolle. Liebe und Glück dominieren im Erlebnis-Speicher. Immer wieder die Frauen, könnte Michnas Lebenswerk heißen. Doch Michna hat es schlicht Karlik Karlitschku genannt, polnische Kosenamen für Karl, mit denen er in Oberschlesien aufgewachsen ist.

Helene, die Tochter aus gutem Hause und Schulfreundin, setzt sich in seinen Gedanken fest, vielleicht, weil sie unerreichbar bleibt. Viel früher noch die raumfüllende Tante Anna, die Hotelbesitzerin und Dame von Welt, die ihre Auftritte in Karliks vergleichsweise bescheidenem Elternhaus genießt, vor der alle nur kuschen. Nur der zehnjährige Karlik ergreift eigenmächtig das Wort: „Dann mache ich es eben“, sagt er und meint die Kellnerlehre, die sein älterer Bruder partout nicht antreten will. Schon früh steht fest: „Der wird mal was Feines, einen Frack tragen und sich nicht so abrackern wie die meisten in Walzen.“ Der blonde Junge kommt nach der Volksschule mit 14 Jahren aus der oberschlesischen Provinz in die Großstadt nach Gleiwitz, lernt im „Schlesischen Hof“. Heimweh setzt ihm zu, der Lehrling tröstet sich mit Bruchschokolade, das Stück zu zehn Pfennig, und entdeckt seine Leidenschaft fürs Kino.

Die Leinwand klärte ihn auf, mit 17 verführte ihn ein vier Jahre älteres Zimmermädchen. Doch das Leben mit Gitta kostete Geld, das er nicht hatte. Zudem vergnügte sich seine Freundin auch noch mit Franz, Kellnerlehrling wie Karl, aber älter. Bardame Gitta, schon über 30 und ausschließlich kollegiale Freundin, brachte ihm Walzer und Tango bei, Oberkellner Schmitt führte ihn in die Welt der Oper ein.

Schließlich wird Karlik gemustert, entscheidet sich als Junge vom Land für die Kavallerie. Zwei heftige Beziehungen dauert es noch, bis er einrücken muss. Es begann die Zeit des Glücks: Der junge Soldat musste nicht an die Ostfront, sondern wurde nach Frankreich abkommandiert, leitete als gelernter Kellner an der Atlantikküste schon nach kurzer Zeit ein Offiziers-Kasino. „Der Krieg war weit weg“, schreibt er. Doch plötzlich war er doch mittendrin, wurde an die Ostfront verlegt. Diesmal hieß das Glück Malaria, die er sich in den Pripiet-Sümpfen geholt hatte. Die Anfälle verschafften dem jungen Soldaten regelmäßig mehrwöchige Genesungspausen.

Michna kam in amerikanische Gefangenschaft, landete nach dem Krieg in Hamburg, wo er seine Frau, eine Kriegswitwe mit Kind, die er zu Kriegsbeginn geheiratet hatte, wiedertraf. Karl musste Häuser in Fischbek bauen, lernte das Mauern, konnte später sein Haus selbst bauen, und arbeitete sich Schritt für Schritt nach oben, als Kellner, Speisewagenschaffner und Buchhalter. Immer wieder kehrt der Norderstedter in seine Heimat zurück. Die habe sich kaum verändert, und er habe viele Freunde im Dorf gefunden. „Wir haben in der Volksschule enorm viel gelernt“, sagt das Multitalent, das auch noch hervorragend malen kann.