Von wegen Politikverdrossenheit: Die 76-jährige Uta Niemeier hat in den vergangenen drei Jahrzehnten kaum eine Sitzung der Norderstedter Stadtvertretung verpasst.

Es gibt ein, zwei Konstanten bei den Sitzungen der Norderstedter Stadtvertretung. Bundespräsident Joachim Gauck hängt immer in seinem Bilderrahmen an der rechten Wand des Plenarsaals. Und ihm gegenüber im Zuschauerbereich sitzt immer Uta Niemeier, 76. Gauck ist gegen die Norderstedter Seniorin allerdings ein Novize. Denn er hängt hier ja erst seit dem 18. März 2012. Uta Niemeier hat vor ihm an gleicher Stelle das Intermezzo Christian Wulff hängen sehen, davor den Köhler Horst, dann Johannes Rau und Roman Herzog. Bis 1994 den Richard von Weizsäcker. Ob sie Karl Carstens (bis 1984) hat hängen sehen, ist jetzt nicht ganz klar. Auf jeden Fall hat Uta Niemeier irgendwann zu dieser Zeit damit begonnen, die Sitzungen der Stadtvertretung zu besuchen. Bis heute hat sie nicht damit aufgehört.

Jeder Politiker, jeder Verwaltungsbeamte oder -angestellte, jeder regelmäßige Besucher des Plenarsaals kennt die kleine, etwas in sich zusammengefallene Frau. Ihre Erscheinung wirkt zuweilen wie aus einem anderen Jahrhundert. Uta Niemeier trägt zu jeder Jahreszeit dieselbe Kleidung. Diese ist entsprechend strapaziert. Auf dem schmalen Kopf verdeckt ein dünnes, fast farblos gewordenes Tuch die Haare und rahmt ein Gesicht, in dem das Leben tiefe Falten liegen gelassen hat, so wie ein Fluss Sandbänke in einem Canyon. Ihr zierlicher Körper steckt in einem unförmigen Anorak in ausgeblichenem Blau, an der Schulter kann man erkennen, dass hier schon mal ein Loch mit der Nähmaschine gestopft wurde.

Frau Niemeier beweist in den Sitzungen nicht selten großen Sachverstand

Ihre schmalen Hände stecken unabhängig von Jahreszeit und Temperatur in langen Handschuhen aus schwarzer Wolle. Dazu trägt Uta Niemeyer eine graue Hose und kleine, weiße Schuhe, die schon viele Kilometer gesehen haben. Ein dunkelblauer Hacken-Porsche ist ihr ständiger Begleiter und ersetzt die Handtasche.

Wenn Uta Niemeyer in der Stadtvertretung oder in einem der Fachausschüsse, die sie mit ebensolcher Regelmäßigkeit besucht, aufsteht und ihre Fragen zu Protokoll gibt, dann blicken die, die sie nicht kennen, erstaunt. Denn nicht selten beweist Frau Niemeier Sachverstand, zumindest, dass sie im Thema ist. Es kann auch passieren, dass sie plötzlich wissen will, ob der Taxifahrer recht hatte, als er sie beförderte und dabei ungeniert rauchte und ihr weismachen wollte, dass dies rechtlich schon in Ordnung gehe. Auch für diese aus dem Zusammenhang gerissenen Anfragen, mit denen die Kommune streng genommen nichts zu tun hat, pflegt die Verwaltung Routinen. Im Fall des rauchenden Taxifahrers sorgte der Erste Stadtrat Thomas Bosse dafür, dass Frau Niemeier eine Antwort in den folgenden Tagen erhielt.

Vor und während der ersten Sitzung der 11. Stadtvertretung am Dienstag diskutierte die Kommunalpolitik, wie sie den Bürger dazu bewegen könne, sich gefälligst für die Entscheidungen und die Entscheidungsträger in ihrer Stadt zu interessieren. Wie es zu schaffen wäre, dass irgendwann mal mehr als kaum ein Drittel der Stadtbevölkerung zu den Kommunalwahlen geht. Die CDU-Stadtvertreterin Heideltraud Peihs, 74, erinnerte als ältestes Mitglied des Kommunalparlaments den Bürger an seine "Holschuld": "Wenn alle Ausschüsse und die Sitzungen der Stadtvertretung öffentlich sind, dann kann ich als Politiker auch mal verlangen, dass der Bürger sich dort auch die nötigen Informationen besorgt."

Und dann stand plötzlich Uta Niemeier im Mittelpunkt. Die Stadtpräsidentin Kathrin Oehme sprach sie direkt an. "Wir wollen uns heute mal bei einer Frau bedanken, die unserem Parlament seit Jahren die Treue hält." Uta Niemeier erschrak richtig, stand aber schließlich auf uns bedankte sich unter dem Applaus der 46 Stadtvertreter und der vielen Zuschauer im Saal.

Später in der Pause, die Stadtvertreter gehen Würstchen und Kartoffelsalat essen, da weiß Uta Niemeier auf die Frage, wie sie es findet, dass sich immer weniger Leute für die Kommunalpolitik interessieren, keine Antwort. "Das weiß ich nicht. Ich interessiere mich. Ich will informiert sein, was in der Stadt passiert. Die Umwelt, der Verkehr, die Kultur, neuerdings auch die Bereiche Schule, Sport und Kitas. Ich habe selbst drei Kinder großgezogen."

Uta Niemeier ist in Hamburg-Bahrenfeld groß geworden. "1959 sind wir dann nach Norderstedt gezogen." Neben der Hubertus-Apotheke an der Straße Achternfelde hatten sie und ihr Mann jahrelang eine chemische Reinigung. "Als die Kinder klein waren, hatte ich keine Zeit für Politik. Als sie langsam aus dem Haus waren, ging das los, so um 1984 herum."

Schon länger ist sie geschieden von ihrem Mann und lebt alleine am Uhlandweg. Uta Niemeiers neue Familie in ihrem jetzigen Leben ist die Öffentlichkeit. "Ich habe mich viele Jahre als Grüne Dame im Krankenhaus engagiert. Ich habe eine goldene Ehrenmedaille bekommen. Wollen Sie mal sehen, ich habe sie dabei?" Wenn sie nicht durch die Termine in den Ausschüssen und der Stadtvertretung verhindert ist, dann besucht die Rentnerin die kulturellen Veranstaltungen im Festsaal am Falkenberg oder im Kulturwerk. "Da stand ich kürzlich, und es gab keine Karten mehr. Da kam eine Frau, die wollte nicht alleine in das Konzert der Musikschule, und schenkte mir die Karte. Was für ein Glück!" Jeden Sonntag besucht die den Gottesdienst der Christuskirchengemeinde. Und sie liebt die Angebote der Pastoren dort für das stille Gebet, ganz ohne Worte.

So lange sie noch gut zu Fuß ist, will die 76-Jährige weitermachen

Zur Stadtvertretung am Dienstag hätte sie es übrigens beinahe nicht geschafft. "Meine vier Räder haben schlappgemacht. Der ADAC musste kommen. Da ging nichts mehr." Aufhalten konnte das Malheur die alte Dame nicht. "Ich habe mir ein Taxi genommen, für 15 Euro." Die Stadtvertreterin Sybille Hahn (SPD) kommt und begrüßt Frau Niemeier, und als sie das mit Taxi hört, will sie gleich mal herumfragen, ob nicht irgendein Stadtvertreter nach der Sitzung in Richtung Garstedt fährt und Uta Niemeier mitnehmen kann.

Es ist also nicht nur Uta Niemeier, die sich um die Politik kümmert - die Politik kümmert sich auch um sie. Sie muss husten. "Wissen Sie, ich habe ein Lungenemphysem." Trotzdem: So lange sie noch gut zu Fuß ist, wird sie da sitzen, im Zuschauerraum der Stadtvertretung, über den Köpfen der Stadtvertreter hinweg den amtierenden Bundespräsidenten im Blick. Eine letzte Frage noch: Warum die Handschuhe? "Ach, ich habe immer kalte Hände. Früher habe ich sie sogar noch im Bett angezogen. Das muss ich jetzt nicht mehr. Ich bin schon besser geworden." Tatsächlich. Der Händedruck von Uta Niemeier ist angenehm warm.