Peter Lorenz, 62, aus Norderstedt hat genug von Alltags-Hektik und Rentnerdasein. Für zehn Wochen steigt er aus und wird Helfer einer Sennerfamilie

Peter Lorenz, 62, sitzt entspannt auf dem cremeweißen Sofa im gepflegten Wohnzimmer seines Reihenhauses am Rugenbarg, das Abendblatt auf dem Tisch, daneben die Fernbedienung für das Fernsehgerät und sein Tablet-PC. Ein Mann mit Muße.

Jahrzehnte lang hat Lorenz für Hewlett Packard den Kundendienst in ganz Norddeutschland verantwortet, bis zum Ruhestand. "Ich war ein Bürohengst", resümiert er sein Arbeitsleben. Nicht, dass ihm der Job keinen Spaß gemacht hätte. Das ist es nicht. Doch angekommen in seinem neuen Lebensabschnitt, in einem Meer aus Zeit, scheint ihn ein Gefühl von Leere zu überkommen zu haben. Peter Lorenz dürstet es nach etwas Sinnvollem, wie er sagt. Ein Verlangen nach Aufbruch, für das er nun, in seinem Leben als Rentner, endlich die nötige Zeit zur Verwirklichung finden kann. "Ich will weg von der Hektik. Ich will in und mit der Natur leben. Ich will mit der Sonne aufstehen, die Natur soll mir die Zeiten vorgeben."

Er blickt auf das Fernsehgerät. "Jeden Abend, 20 Uhr, Tagesschau. Dieser immer gleiche Trott. Und draußen dieser Zwang zum Event. Jedes Wochenende irgendwas Außergewöhnliches. Die Harley-Days, Hafengeburtstag, Marathon - diese Gefühl, da musst du mitmachen, wenn du dazugehören willst." Zivilisationsmüdigkeit macht sich breit im Hause Lorenz.

94 Milchkühe, 90.000 Liter Milch und jede Menge "Freschengold"

Den Traum vom Aussteigen aus dem kommoden, manchmal nervigen Alltag des Ruhestands in Norderstedt hegt er schon lange. Jetzt hat er die Bühne dafür gefunden. Sie liegt hoch oben, auf dem Berg Freschen in Vorarlberg. Es ist die Alpe Saluver. Das klingt schon wie ein Sehnsuchtsort.

1600 Meter hoch am Berg in einem Hochtal-Kessel mit saftigen Weideflächen liegt die Alpe (oder bayrisch Alm), die zehn Wochen lang von Mitte Juni bis Anfang September von der Senner-Familie Felder bewirtschaftet wird. Alles dreht sich um das Wohlergehen von 94 Milchkühen, 30 Schweinen, 20 Ziegen und 15 Hühnern. Etwa 90.000 Liter verarbeitet die Senner-Familie auf der Alpe zu "Freschengold", dem mehrfach ausgezeichneten Alpkäse der Familie Felder. Ab und an kommen die Wanderer des Weges, um bei einer Bergsteigerjause das Freschengold zu kosten.

Moment - wie, um Himmels willen, passt jetzt ein pensionierter Bürohengst aus Norderstedt mit Zivilisationsmüdigkeit in diese Szenerie? "Melken kann ich nicht. Und den Senner kann ich auch nicht geben. Aber den Depp vom Senner", sagt Peter Lorenz. Der Mann hat zwei rechte Hände, war lange Bergsteiger, ist also topfit und voll im Saft. Außerdem ist er Bauernhof-erfahren. Gemeinsam mit seiner Frau ist der gebürtige Regensburger mehrmals zum Ernteeinsatz bei Freunden in der bayerischen Heimat gefahren. "Sechs Stunden am Tag Trecker fahren und das Heu reinbringen!", sagt Peter Lorenz. Außerdem ist Lorenz im Besitz einer gut sitzenden Krachledernen (Lederhose aus Hirschleder) und einem Paar sauteurer (90 Euro!) Stallclogs aus Holz und Leder mit Lammfellfütterung. "Das Holz saugt den Schweißfuß auf, und wenn was reinläuft, kann man Schuh und Fuß gleich unters Wasser halten."

In einem Internet-Forum, in dem sich trifft, was auf den Berg will, da pinnte Peter Lorenz seinen Steckbrief ans virtuelle schwarze Brett. "Etwas später hätte ich Angebote von fünf Sennern auf fünf Alpen." Die Saluver Alpe machte das Rennen. "Da wird kein Vertrag aufgesetzt, oder so. Ein kurzes Telefonat mit dem Senner, das war's." Und jetzt ist Lorenz offiziell für zehn Wochen im Sommer Stallbursche. Von Abenteuerurlaub kann nicht die Rede sein. Der Job ist hart. "Um 5 Uhr in der Früh geht's hoch. Dann wollen die Rindviecher gemolken werden. Aber ich bin für das Ausmisten und für die Feldarbeit eingeteilt." Keine Spur von Heidi-Romantik. Abends geht's früh ins Bett, damit man morgens wieder hochkommt. Sieben Tage die Woche, zehn Wochen lang, kein Verdienst, nur ein kleines Taschengeld, dafür Kost und Logis. Am 22. Juni geht's auf die Alm. "Es kann sein, dass es auf 1600 Meter aber noch schneit, dann verzögert sich der Einsatz." Für den 7. September ist der Almabtrieb geplant. Dann geht's mit allen Rindviechern - Glocken um die Hälse, Blumenkränze auf den Hörnern - wieder ins Tal. "Der Senner sagte mir, dann wird einer gesoffen. Und das werde ich nicht überleben." Wenn doch, dann wird seine Frau unten im Dorf auf ihn warten und ihn in die Arme nehmen.

Werden die zehn Wochen auf der Alm einen anderen Mann aus ihm machen?

Wird sie einen völlig anderen Mann in Empfang nehmen, der gleich wieder hoch will, auf den Berg? "Gut, man weiß nicht, was die zehn Wochen mit mir machen. Aber ich lebe seit drei Jahren in Norderstedt. Hier ist meine Heimat, meine Familie, mein Umfeld, das will ich doch nicht missen", sagt Lorenz. Seine Frau findet es gut, dass er nach all den Jahren seinen Traum von der Alpe lebt. Sie hatte ein Überraschungs-Abschiedsfest für ihn organisiert. "Ich wusste von nichts. Und plötzlich standen alle Freunde da." Auf dem Küchentisch liegt jetzt, was sie ihm mit auf die Alpe gegeben haben. Bücher, Bücher, Bücher und ein Fläschchen Korn. Im Übrigen: "Die haben schon Strom auf der Alpe Saluver", sagt Lorenz. Und manchmal sogar Empfang für das Mobiltelefon, wenn man irgendwo draußen steht, den Arm nach oben hält. Alle zwei Wochen fährt der Senner ins Dorf, um die Käse abzuliefern und um Zutaten wieder nach oben zu schaffen. "Da fahr ich mit, und im Dorf nehm ich den Laptop, schalt mich kurz auf und kommuniziere mit der Welt."

So will er dann doch die Verbindung halten, zum kommoden Alltag, zu Norderstedt und Hamburg mit seinem hektischen Zwang zum Event. Weil man das vielleicht auch wieder zu schätzen lernt, wenn man in einem vielleicht brettharten Bett auf 1600 Metern liegt, einem die Knochen von der Feldarbeit wehtun und über allem der Duft eines frischen Kuhfladens liegt. Peter Lorenz glaubt aber schon, dass er durchhalten wird. Obwohl: Aussteigen beim Aussteigen geht auch. Es gibt Menschen, die gerne nur die Hälfte der Zeit auf die Alpe wollen. Die springen dann ein.

Doch Peter Lorenz scheint so entschlossen, dass diese Alternative für ihn eine Niederlage bedeuten würde. Denn schon bevor er überhaupt die erste Kuh auf der Alpe Saluver kennengelernt hat, spricht er schon vom nächsten Abenteuer, von der nächsten Suche nach Sinnvollem im Meer der Zeit. "Mit dem Transsibirien-Express durch ganz Russland fahren. Nicht in der dritten Klasse, aber doch auf eigene Faust und unorganisiert. Russisch kann ich nicht." Gute Voraussetzungen.