Reimer Rathje und Christiane Mond von Wir in Norderstedt (WIN) im Interview . Sie sind die “Frischlinge“ in der Stadtvertretung und wollen dort “verkrustete Strukturen“ aufbrechen.

Hamburger Abendblatt: Nach dem Erfolg bei der Kommunalwahl müssen Sie sich in ihre Rolle einfinden: Schon klar, was Fraktionsstatus heißt, welchen Aufwand Ausschussarbeit bedeutet?

Reimer Rathje: Ganz ehrlich: Wir haben keine Ahnung. Im Rathaus hat man uns bisher keine Informationen gegeben, was wir jetzt tun müssen. Wir haben von anderen Parteien erfahren, dass wir in jedem der elf Ausschüsse der Stadtvertretung einen Sitz haben könnten. Was müssen wir jetzt machen? Müssen wir uns anmelden? Wir haben Broschüren bekommen, wissen aber nicht mal, in wie vielen Ausschüssen wir sind. Und in Aufsichtsräte sollen wir auch rein - das muss uns ja erst mal gesagt werden. Wir erfuhren auch, dass wir eine Fraktionssekretärin bekommen. Alles nicht geklärt! Das Problem: Wir müssen bis zum 14. Juni eine Liste mit den Namen für die Ausschüsse abgeben.

Steht denn das Team der WIN grundsätzlich? Wie viele Aktive haben sie?

Rathje: Wir haben zehn aktive Leute. Also auch keine Schwierigkeiten, die Ausschüsse zu besetzen. Da höre ich, dass andere Parteien größere Probleme haben. Wir machen jetzt zunächst eine Mitgliederversammlung. Leider können wir den Leuten aber noch nicht genau sagen, in welchem Fachgebiet wir sie einsetzen wollen.

Helfen Ihnen die anderen Parteien denn nicht bei den ersten Schritten?

Rathje: Doch, da haben wir schon Gespräche geführt. Mit den Grünen, der Frau Schmieder. Und mit Herrn Lange von der SPD haben wir gesprochen. Aber man kommt sich dabei vor wie ein kleiner Junge. Dass natürlich nicht alle auf uns zukommen und sagen: Herzlich willkommen - das ist uns schon klar.

Es wird jetzt vieles auf ihre Fraktion einstürzen. Die anderen Parteien zum Beispiel, die sie als Mehrheitsbringer in der Stadtvertretung brauchen werden. Wir sehen Sie ihre zukünftige Rolle als "Zünglein an der Waage"? Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?

Rathje: Also mir wird das alles zu hoch gehängt, mit diesem Zünglein an der Waage. Natürlich kann das sein, wenn Schwarz-Gelb eine Idee hat, und die anderen - wie immer in den letzten fünf Jahren - aus Protest eine andere Meinung haben, dann sind wir natürlich das Zünglein. Ist aber auch möglich, das Schwarz-Gelb-Grün sich mal einigen und wir sind außen vor.

Wo würden Sie sich denn politisch verorten? Manche sagen, sie sind eine Garstedter FDP gegen Fluglärm, andere, sie seien etwas bürgerlicher als die Grünen?

Rathje: Interessante Frage. Da haben wir uns noch keine Gedanken gemacht.

Sind Sie also unpolitisch und orientieren sich anhand der Themenlage?

Rathje: Ich bin politisch - auf Bundes- oder Landesebene. Ich finde nur, das spielt in der Kommunalpolitik keine große Rolle, etwa wenn es um einen Kreisverkehr, einen Radweg oder eine Straße geht. Wir sind eine Bürgerpartei.

Christiane Mond: Wenn ich mein Wahlverhalten über die letzten 20 Jahre analysiere, dann war das doch eher bunt. Je nachdem, welches Thema einen gerade interessierte und beschäftigte.

Rathje: Links habe ich noch nie gewählt. Ganz links schon gar nicht.

Mond: Ändert sich ja auch, die politische Gesinnung im Laufe eines Lebens.

Und ihre Mitglieder? Bunt gemischt? Eher jünger oder älter?

Rathje: Ende 30, Anfang 40. Kaufleute, Betriebswirte. Aber auch viele ältere Leute. Ein Rentnerehepaar sagte mir im Wahlkampf: Kann doch nicht sein, dass die CDU mit dem Günther Nicolai so viele Querelen hatte und ihn trotzdem auf einen vorderen Listenplatz setzt. Wir werden die nicht wählen, ihr Jungen müsst jetzt mal ran.

Mond: Im Herold-Center wurde ich angesprochen, man gratulierte mir, dass es die WIN geschafft hat. Dabei haben wir doch noch gar nichts geschafft. Jetzt geht es doch erst los.

Kommen wir zu ihrem Hauptanliegen: Fluglärm ist ein gutes Thema im Wahlkampf, ein schwieriges Thema in der Politik. Was können Sie realistisch in den nächsten fünf Jahren erreichen?

Rathje: Ganz realistisch glaube ich, dass wir in den nächsten zwei, drei Jahren eine Reduzierung der Starts und Landungen über Norderstedt erreichen können. Ich bin mir ganz sicher, dass Kiel das Problem nicht kennt. Die haben davon vielleicht mal gehört. Aber so wie es dort vorgebracht werden müsste, ist es nie vorgebracht worden. Man muss natürlich optimistisch sein. Wenn ich jetzt schon das Gefühl hätte, das bringt alles nichts, dann hätte ich das alles nicht machen müssen. Dass Oberbürgermeister Grote bei Herrn Scholz (Anmerk. der Red: Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz) nichts ausrichten kann, ist mir auch klar. Dass aber Herr Grote von vorneherein sagt, er kann nichts machen und die Verwaltung habe so viel erfolglos versucht, von dem die Bevölkerung gar nichts wisse, da frage ich mich: Warum war Herr Grote nicht bei den Sitzungen der Lärmschutzkommission? Von 14 Sitzungen seit 2009 war er zweimal anwesend. Ansonsten geht Sprecher Hauke Borchardt hin. Und der fiel uns in den Rücken und stimmte so ab, dass wir morgens 100 Prozent der Starts bekommen.

Den Politikern in Kiel muss also nur mehr auf die Füße getreten werden und dann ändert sich was beim Fluglärm?

Rathje: Für uns ist die Forderung klar: Wir möchten gleichberechtigt werden. 25 Prozent der Landungen, 25 Prozent der Starts. Nicht jeden Sonntag morgens um sechs vom Lärm genervt sein und aufwachen. Es gibt vier Sonntage im Monat und vier Richtungen am Flughafen, ein Sonntag im Monat Lärm - das wäre fair. Dass wir das nicht gleich erreichen werden, ist sonnenklar. Aber von den 60 Prozent der Starts über Norderstedt muss man runterkommen. Die in Kiel sind weit weg, woher sollen sie das wissen? Die Landtagsabgeordnete Katja Rathje-Hoffmann kümmert sich lieber um Frauenpolitik, wurde mir auf Anfrage beschieden.

Aber Kiel hat doch auch keinen direkten Einfluss auf den Flughafen Hamburg.

Rathje: Direkt nicht. Aber die politischen Themen, die es zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein gibt, werden ständig miteinander verquickt. Es ist immer ein Geben und ein Nehmen zwischen den Ländern. Da muss sich Kiel einfach mal bewegen und über andere Themen Druck machen.

Wenn Kiel Ihnen in einem Jahr sagt: Lasst uns in Ruhe mit eurem Fluglärm, alles bleibt, wie es ist. Wie belastend wäre das für ihre Fraktion? Wenn der Kampf gegen den Fluglärm ergebnislos bleibt, sinkt dann das Interesse an der WIN-Fraktion und der weiteren Mitarbeit? Manche unken, die WIN schafft die fünf Jahre nicht, zersplittert vorher und wird sich in Einzelkämpfer aufteilen.

Rathje: Nein, mit Sicherheit nicht. Unsere Mitglieder sind zum großen Teil sauer auf die anderen Parteien und dass in dieser Stadt nichts mehr passiert. Meistens ältere Leute, durch die Bank weg. Die sagen, es kann nicht sein, dass die älteren Politiker schon so lange dabei sind, und es passiert nichts mehr. Im Wahlkampf an den Ständen haben wir das gespürt. Da bekamen wir viel Zuspruch aus den anderen Stadtteilen. Und selbst wenn wir jetzt nicht sofort Erfolg haben werden - ich glaube ja auch nicht, dass wir in einem Jahr Gleichberechtigung bei den Starts und Landungen haben werde, so blauäugig bin ich nicht. Aber es gibt doch so viele andere Sachen, die man in dieser Stadt ändern kann.

Mond: Der Fluglärm war es, der uns an einem Sommerabend auf einer Terrasse zusammenführte. Das war so was wie die Urzelle der WIN. Aber wir sind ebenso sehr an anderen Themen und Problemen interessiert.

Dann sagen Sie doch mal: Was müsste denn anders werden, was sind die anderen Themen, was wollen Sie verändern?

Rathje: Ein konkretes Problem kann ich Ihnen jetzt gar nicht nennen, in dem Sinne, hier und dort müsste jetzt ein Kreisverkehr hin.

Was sagen Sie Leuten an der Poppenbütteler Straße, die sagen, euer Fluglärm in Garstedt interessiert uns nicht, wir haben hier 25.000 Autos am Tag auf der Straße, was macht ihr da, liebe WIN?

Rathje: Dazu haben wir gerade einen Brief bekommen von der Interessengemeinschaft Glashütter Damm. Hatte noch keine Zeit zu reagieren, kommt aber als nächstes dran. Da muss man einfach mal gucken: Warum haben die so viel Verkehr, woher kommt der, wo führt der hin. Da kann man nicht sagen: Das war immer so, das bleibt auch so, so wie es andere tun. Macht eine Entlastungsstraße um Glashütte herum Sinn? Darüber muss man nachdenken. Patentrezepte habe ich nicht. Oder das Pestalozzi-Bad: Erst stimmen die Parteien ab, es soll geschlossen werden, dann kommt der Wahlkampf, 3000 Bürger geben Unterschriften für den Erhalt ab, und dann heißt es plötzlich von der Politik, wir haben falsche Zahlen von der Verwaltung bekommen, wir müssen noch mal abstimmen. Da frage ich mich: Entschuldigung, wer gibt falsche Zahlen und Auskünfte? Das habe ich auch von anderen Fraktionen zu anderen Themen gehört. Wie kann das sein, dass über Jahre hinweg eventuell auf Basis von falschen Daten beschlossen wird. Da muss mehr Transparenz sein.

Das heißt, Sie wollen an eingefahrene Themen ganz frisch und neu rangehen und sagen: Schauen wir doch mal?

Rathje: Das ist der Ansatz, weil alles so eingefahren in der Stadtvertretung ist. Die sind ja so zerstritten, dass sie gar keine Kompromisse mehr finden können. Nehmen sie das Beispiel der Parkplatzprobleme am Arriba-Bad. Da kann ich mich schon aufregen. Die CDU will jahrelang prozessieren für eine Lösung, die nicht durchsetzbar scheint. Doch damit wird das Problem auf die lange Bank geschoben. Auf der anderen Seite besteht der Vorschlag, das alte Volleyballfeld zum Parkplatz zu machen. Da würde ich doch sagen, wir entscheiden uns wohl mal für das Volleyballfeld. Dann wird das Problem nicht ausgesessen, sondern gelöst. Wir wollen in die Stadtvertretung, um verkrustete Strukturen aufzubrechen. Mit vielen jungen Leuten bei der SPD und den Grünen sind wir uns da einig, die sind offen und nicht so eingefahren und verkrampft wie die alten Abgeordneten.

Ein beliebter Sport in der Stadtvertretung ist ja der Fraktionswechsel. Sie nehmen sicher gerne Überläufer anderer Parteien auf?

Rathje: Wenn jemand möchte und das würde passen - warum nicht. Unsere Mitgliederzahlen wachsen ständig. Wir liegen bei knapp 50. Wir haben jeden Tag drei oder vier Anrufe von wildfremden Leuten, die sich freuen, dass wir in der Stadtvertretung sind. Wir sind zwar nicht viele, aber wir haben den Ansatz, es anders zu machen, und dadurch, dass wir dabei sind, müssen sich die anderen Fraktionen bewegen, gerade weil wir das Zünglein an der Waage sind.

Sie scheinen über das Thema Fluglärm im Politikbetrieb angekommen zu sein und sich mehr vorgenommen zu haben. Auch wenn noch im Dunkeln bleibt, wie sie zu Themen wie Finanzen, Verkehr oder Kitas stehen.

Rathje: Kitas? Kriege ich einen dicken Hals, ganz ehrlich. Alle schreiben in ihre Wahlprogramme, wir sind für den Ausbau der Kitas. Da muss ich lachen. Wer ist das nicht. Das ist ein Gesetz. Müßig darüber zu diskutieren. Oder sozialer Wohnungsbau: Wer ist nicht dafür, dass Menschen mit weniger Geld hier genügend Wohnraum bekommen? Und dass junge Familien nicht so viel Geld dafür ausgeben müssen. Aber die Möglichkeiten sind nun mal begrenzt. Norderstedt kann keine Wohnungen bauen. Herr Grote hat mal gesagt, Norderstedt hat ein Riesenproblem, weil es keine eigenen Flächen hat. Wenn alle Parteien für den Ausbau sind, aber nennen keinen Ansatz, wie das gehen soll, finde ich das verlogen.

Die Linken schlagen eine städtische Wohnungsbaugesellschaft vor.

Rathje: Haben die auch gesagt, wie das finanziert werden soll? Ist mir schleierhaft. Grundsätzlich kann von uns Frischlingen niemand verlangen, dass wir für alles Patentrezepte haben. Ich maße mir nicht an, alles besser zu wissen als andere.

Werden sie in den nächsten Wochen eine Kennenlernrunde bei den anderen Parteien machen?

Rathje: Wir warten mal den 18. Juni, den Tag der konstituierenden Sitzung der Stadtvertretung ab. Wenn dann die ersten Themen anstehen, werden wir uns ganz schnell kennenlernen.

Wurden Sie kontaktiert von den anderen Parteien, bekamen sie Angebote?

Mond: Doch, doch, die haben sich alle bei uns gemeldet (lacht) .

Rathje: Nein, die CDU hat sich nicht gemeldet, und auch Herr Berbig von den Linken nicht. Angebote zur Zusammenarbeit hatten wir schon vor der Wahl. Die Piraten wollten sogar mit uns eine Liste machen.

Beantragen Sie Welpenschutz in der Stadtvertretung? Dass man rücksichtsvoll mit ihnen umgeht, weil sie neu sind?

Rathje: Um Gottes Willen, nein, dann kann ich ja nicht austeilen. So lange das alles fair ist und man in der Sache streitet, bis die Fetzen fliegen, ist doch alles okay. Die meisten sagen ja, ich sehe jünger aus, als ich bin, und unterschätzen mich deswegen. Das machen die dann aber auch nur einmal.

Wo sehen sie sich als Fraktion in fünf Jahren?

Rathje: Wenn in den nächsten Jahren ein paar Probleme mit unserer Hilfe gelöst werden und wir die Leute bei der nächsten Wahl dazu motivieren können, zu 50 oder 60 Prozent zur Wahl zugehen, dann können wir stolz sein. Wir werden einfach versuchen, auf dem Boden zu bleiben, uns direkt um die Wünsche und Fragen der Bürger zu kümmern und nicht abzudriften.