Der Fußballer koordiniert an der syrischen Grenze die medizinische Hilfe und kämpft gegen die Gewalt in den Camps. Vier Wochen erlebt der Sportler hautnah, was es bedeutet, wenn der Krieg Menschen die Heimat raubt.

Norderstedt. Er ist ein Fußballer mit Herz und einem ausgeprägten Hang zur Hilfe. Ole Hengelbrock, der bei Eintracht Norderstedt in der Oberliga spielt, studiert Soziale Arbeit in Hamburg und empfindet auch so. Deswegen ist er in den Libanon aufgebrochen, koordiniert die medizinische Hilfe in den Lagern, in denen sich 1,4 Millionen syrische Flüchtlinge drängen. Vier Wochen erlebt er hautnah, was es bedeutet, wenn der Krieg Menschen die Heimat raubt, sie in Lager verschlägt, wo sie nie allein sind, im Dreck leben, ohne Arbeit, ungeregelt, wo Gewalt das Zusammenleben der Kinder regelt. Hier der Bericht von Ole Hengelbrock:

Noch vor zwei Wochen saß ich in meinem Lieblingscafé der Hansestadt Hamburg und schrieb fleißig an meiner Bachelorarbeit. Am letzten Punkt der Arbeit stauten sich die Wörter –ich kam nicht mehr weiter. Also gönnte ich mir eine Zwangspause und blätterte in den Zeitungen. Kein Exemplar ließ die aktuellen Geschehnisse in Syrien aus: Es ist Krieg. Was bedeutet das? Wie fern liegt mir die Vorstellung, seine Heimat verlassen zu müssen oder nicht in einem Café sitzen und in Frieden eine Tasse Tee trinken zu können?! Ich erinnere mich, dass ich an diesem Tag keinen Satz mehr an meiner Bachelorarbeit schrieb. Der Grund war ein Anruf aus der humedica Zentrale in Kaufbeuren. Bis dahin war Syrien für mich ein Land im Nahen Osten, das versucht einen Diktator zu stürzen; eine gewaltvolle Eskalation des arabischen Frühlings; ein Trümmerfeld gezeichnet durch YouTube-Videos. Ich konnte die Geschehnisse in Syrien nicht be-greifen. Mir war es nur als ein Synonym bekannt, das die Medien gebrauchten, um von Krieg zu berichten.

Nun sitze ich auf dem Dach eines Hauses in der libanesischen Stadt Zahlé und blicke auf das Bekaa- Tal. Die untergehende Sonne wirft ihre letzten Strahlen auf die gegenüberliegende Gebirgskette. Hinter diesen Bergen liegt Syrien. Das Land, das so weit weg scheint. Der Krieg, den ich mir nicht vorstellen kann. Humedica startete bereits im September 2012 ein Projekt im Libanon, um syrische Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Nun bin ich Teil dieses Einsatzes. Als Assistenz-Koordinator fahre ich mit dem medizinischen Team in die Flüchtlingscamps. Es sind unzählige ins Beka-Tal gewürfelte Zeltbauten. Nach Angaben des UNHCR sind bis zu 1.405.000Millionen Menschen aus Syrien geflohen. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte über Flucht, Angst und Krieg.

Wenn die Straßen ruppiger werden nähert man sich den Flüchtlingscamps. Sie liegen außerhalb der Stadt und grenzen meist an Kartoffeläckern oder Salatfeldern. Die Möglichkeit Arbeit zu finden ist dort für die Flüchtlinge am Größten. Abwechselnd fahren wir die vielen Camps an, sodass jedes im zwei bis drei Wochenrhythmus besucht werden kann. Im Rückspiegel ist der aufgewirbelte Straßenstaub zu sehen. Von oben brennt die Sonne. Im Vorbeifahren hört man kindliche „Salam“ Rufe. Jedes Camp ist eine in sich geschlossene Gruppierung von 30bis zu 100Familien. Die Eindrücke die auf mich wirken sind kontrovers. Auf der einen Seite addieren sich Satellitenschüsseln analog der Familienanzahl und versprechen eine geregelte Stromversorgung. Auf der anderen Seite zeugen die Fäkalien und der Müll im angrenzenden Bachlauf von Destruktivität. Auch die Menschen verhalten sich unterschiedlich. Während manche unser Kommen in Ruhe und beobachtend abwarten, strömen andere wild auf uns zu und treffen aus ihrem individuellen Tenor eine gemeinsame übertönende Tonlage. In den Camps wird uns jeweils ein Zelt zur Verfügung gestellt. In diesem praktizieren die Mediziner. Wenn alles aufgebaut ist und meine Kollegen mit der medizinischen Versorgung beginnen, nehme ich mir Zeit, den Menschen vor dem Zelt zu begegnen.

Mit den Menschen kommt man schnell in Kontakt. Vor allem die Neugier der Kinder spannt mich in ihre Mitte. Ganz unbedarft spüre ich Fingerspitzen auf Armen und Beinen; Augen richten sich auf meinen Bildausweis. Auf den Versuch arabisch zu sprechen antworten die Menschen mit Begeisterung: امو„ و كمسا يمسا “يلواMein Name ist Ole, wie heißt du? –Lächelnde Menschen mit wunderschönen großen dunklen Augen stellen sich mir vor. Sie lehren mich die arabischen Begriffe für Auge, Mund, Nase und Ohr, für Liebe und die Zahlen bis zehn. Die Kinder warten gespannt bis ich endlich den letzten Finger abzähle. Dann folgt ein stimmgewaltiges „one, two three...“ Wir klatschen, in diesem Moment bleibt kein Wort hinzuzufügen.

Nach dem anfänglichen Beschnuppern gehe ich im Camp umher und schaue mir das alltägliche Leben genauer an. Die Zelte haben ein stabiles Holzgerüst. Manche Innenwände sind gar mit Teppichen verziert. Auf dem Boden liegen drei vier Matratzen und manchmal ist auch ein Ofen zu entdecken. Oft werde ich hereingebeten. Im Schneidersitz versuche ich bei ziemlich starkem Kaffee eine gute Figur zu machen. Dabei höre ich belächelnde Kommentare über meine körperliche Sperrigkeit genau heraus. Die Zelte stehen dicht aneinander, sodass sich die Luft staut. Alleine ist man nie; ständig Gewusel. Mittelpunkt der Camps ist in der Regel ein Wassertank. Hier wird getrunken, gewaschen und verweilt. Nach einer Weile mitten im bunten Treiben entziehe mich dem Blickfeld und beobachte das Leben abseits des Geschehens.

Aus der Ferne betrachtet zerbricht mein romantisches Bild des Zusammenlebens. Der Muff des Camps schwillt über, der Dreck vermag nicht fortgespült werden zu können und der Umgang untereinander wirkt auf mich verstörend. Durch meine pädagogische Profession und Reiseerfahrungen bin ich mir interkulturellen Differenzen in der Erziehung durchaus bewusst. Ein Bild von Gewalt gezeichnet passt jedoch in keinen meiner Bezugsrahmen: Ein älterer Mann fasst einen Jungen. Er mag etwas ausgefressen haben, denn neben lauthalsen Geschimpfe werden seine Ohren in der Tat langgezogen. Dann nimmt er ein Kabel und versetzt dem Jungen einer Handvoll unseliger Hiebe. Das Bild wird noch abtrünniger, als andere Kinder dazukommen und ganze Freude daran verspüren, den Jungen mit Schlägen und Tritten zu schikanieren. Folgende Bilder zeichnen sich ähnlich ab: Ein größerer Junge läuft durch die Kinderschar und verteilt mit einem Seil willkürliche Schäge. Ein Spielzeug wird durch Schupsen, Schreien und Treten weitergereicht. Ein Dialog endet in einer Rangelei, in der der Schwächere aufs Gesicht niedergeworfen wird. Die Revanche lässt nicht lange auf sich warten. Der Gefallene nimmt einen handgroßen Stein, läuft zu seinem Widersacher und droht zuzuschlagen. Dieses Bild erstickt meine Unbeteiligtheit. Als ich den Stein aus der Hand des Jungen nehme, berühre ich einen zitternden Arm; es ist ein todernstes Bild.

Aus meinen zwei Händen forme ich ein Herz. „Amore! Amore!“ - Die Kinder sammeln sich neugierig um mich. Keine Hand ist zu einer Faust geballt, kein Mundwinkel aus Wut verzerrt, kein Gedanke an Gewalt verschwendet. Dieses Bild ist eine Hommage an die zwischenmenschliche Begegnung. Ein Kodakmoment, in dem die Liebe zueinander als Grundsatz des Lebens verewigt wird. Danach folgt wieder buntes Treiben. Sobald es sich zu einer gewaltvollen Auseinandersetzung potenziert, löst mein Blick die Situation auf – „Amore!“ schallt aus mehreren Mündern. Was bleibt hinzuzufügen? Bevor ich dem Bild jedoch Vertrauen schenken kann, fliegen wieder Steine. Eine Frau wirft gezielt nach manchen Kindern. Im Nachhinein erfahre ich, sie kamen aus einem benachbarten Flüchtlingscamp.

Ich setzte mich auf einen Stein und spiele mit den übrig gebliebenen Kindern. Sie verfolgen jede meiner Handlungen. Englische Wörter oder Klatschspiele lernen sie im Handumdrehen. Kinder beobachten ihre Umgebung. Sie saugen die Erfahrungen auf und projizieren sie auf ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten. Sie assimilieren sich nach den Sitten in denen sie leben. Werden Steine geworfen, so sieht ein Kind einen Stein nicht als Rohheit der Natur an, sondern als Ressource seine Absichten gewaltvoll durchbringen zu können. Ein gewaltvolles Umfeld sozialisiert Kinder Gewalt anzuwenden. Eine Verlustspirale der kindlichen Unschuld.

Als die Arbeit der Mediziner getan ist, steige ich ins Auto und blicke zurück auf das Camp. Die Kinder stehen mit großen Augen auf der Straße und rufen „Good Bye!“. Der aufgewirbelte Staub verzerrt das Bild. Ich winke noch einmal und mir wird klar: Destruktivität multipliziert sich. Das gegenwärtige Leben der Menschen ist eine Grenzsituation. Sie mussten aus ihrer Heimat fliehen, finden kaum Arbeit, gehen nicht zur Schule, leben auf engsten Raum zusammen in stetiger Unsicherheit. Das schürt Unmut, Konflikte, gar Gewalt. Doch wenn Destruktivität sich zu Gewalt multiplizieren kann, dann kann sich auch Liebe vermehren. Wenn Menschen fliehen müssen, können

sie auch wieder ein zu Hause aufbauen. Wenn eine Stadt zerbombt wird, können dort auch wieder Blumen blühen. Wenn Kinder Gewalt lernen, können sie auch wieder Liebe leben.

Dieses Projekt dient nicht nur der medizinischen Versorgung der aus Syrien geflohenen Menschen. Dieser Einsatz ist eine Solidaritätsbekundung, eine Präsenz der Empathie, eine „Pflicht des Herzens“. Unser Aufenthalt im Libanon bezeugt ein Da-Sein für Menschen in Not. Letztlich zielt die alltägliche Arbeit im Sinne Theodor Adorno auf einen neuen kategorischen Imperativ: „daß Handeln und Denken so auszurichten, daß Aleppo sich nicht wiederhole“.

Die Nacht ist hereingebrochen. Es ist windiger geworden. Ich freue mich auf den nächsten Arbeitstag und auf ein Wiedersehen mit den Kindern. Jemand sagte mir einmal, Dankbarkeit ist mit einem Zitat zu unterstreichen. Rückblickend und in die Zukunft hoffend bin ich sehr dankbar, dass humedica alle Ressourcen aufbringt, um möglichst viel Liebe zu verbreiten; vor allem in den Krisenregionen dieser Welt:

„Die Welt hat ihre Könige, ihre Staatsmänner, ihre Präsidenten, ihre Diktatoren, was aber wirklich fehlt, das sind Prinzen, Dichter, Erfinder - Fackelträger, die ohne jedes Pathos ein helles Licht über die Kinder der Menschheit halten.“ (Bernard Tirtiaux)

Den vollständigen Bericht lesen Sie auf www.abendblatt.de/norderstedt