Weil seine Enkelin Lea ihn darum bat, hat Manfred Liedtke seine Lebenserinnerungen auf Kassetten gesprochen. Tochter Ursula hat daraus ein Buch gemacht und es ihrem Vater jetzt zum Geburtstag geschenkt

Die Augen schimmern feucht hinter der Brille, als er sein Leben in Händen hält. 87 Jahre auf gut 400 Seiten. Manfred Liedtke hat sich erinnert, an seine Kindheit im Schloss, das Jungvolk, für das er brannte, die 10,5er-Flak-Batterie, an der er als 16-Jähriger auf britische Bomber schoss, den Tigerpanzer, den er führte, den langjährigen Freund, der durch einen Splitter in seinen Armen starb, aber auch an die rote Inge, den Hausschlachter und das geliebte Angeln.

Der Norderstedter hat in seinem Gedächtnis gesucht, erst aufgeschrieben und dann auf Kassetten gesprochen, was ihm wichtig schien. Seine Tochter Ursula Mader, 54, hat die Spuren zu Papier gebracht, die ihr Vater auf 34 Tonträgern hinterlassen hat, und hat daraus ein Buch gemacht. "Die Kraft der Liebe" heißt die Biografie, mit der sie und ihre Tochter Manfred Liedtke zu dessen 87. Geburtstag überrascht haben. "Immer wieder kamen die Gespräche im Familienkreis auf die Nazi-Zeit und den Zweiten Weltkrieg. Und da wollte ich wissen, wie mein Opa diese Zeit erlebt hat", sagt Lea, 24, die Enkelin von Manfred Liedtke.

Ihr Opa ist dem Wunsch gefolgt und hat seine Biografie geschrieben. Nicht nur für seine Enkelin, sondern für alle, die heute den Kopf schütteln und mit Vorwürfen nicht sparen: Ihr müsst doch was mitbekommen haben. Und warum habt ihr zugelassen, dass Juden vergast und Hitler einen Krieg angezettelt hat, der 50 Millionen Tote forderte. "Heute ist die Welt so unendlich unterschiedlich gegenüber damals, sodass unsere Gedanken, Beweggründe und Taten in der damaligen Zeit nicht ohne Erklärungen zu verstehen bzw. nachzuvollziehen sind", schreibt der Senior im Vorwort. Heute beziehen Kinder und Jugendliche ihr Wissen über den dunklen Abschnitt deutscher Geschichte von Lehrern und anderen Menschen, die zu der Zeit noch gar nicht gelebt haben. Die Generation der Zeitzeugen, der heute 80-Jährigen und Älteren, stirbt aus. "Ich beschreibe die Dinge, wie ich sie damals sah und erlebte. Ich kann nur für mich sprechen, ein anderer blickt möglicherweise auf ganz andere Erlebnisse zurück", schreibt der Autor, der kein professioneller Schreiber ist. Trotzdem erzeugt er spätestens dann Spannung, wenn er sein Kriegstagebuch aufschlägt.

Den Geruch von Schokoladenplätzchen hat der Senior noch heute in der Nase

1926 wurde Liedtke im Südharz geboren. Sorglose Kindheit ohne Geschwister, mit Mutter und Vater, Dackel Seppl, Försteropa mit weißem Rauschebart und dem Geruch von Schokoladenplätzchen und Äpfeln, den Liedtke noch heute in der Nase hat. Der Vater war Rektor der Volksschule und fuhr im Sommer mit 40 Bergarbeiterkindern, die sonst nie Urlaub machen konnten, in die Berge oder an die Ostsee. Auf der Insel Hiddensee besuchte die Gruppe Gerhart Hauptmann - doch während die Erwachsenen von einem unvergesslichen Erlebnis schwärmten, war der Abstecher zum bekannten deutschen Schriftsteller für die Kinder nur "der Besuch bei einem alten Mann".

Die Weimarer Republik war "eigentlich eine ruhige Zeit". Nur einige Gruppen marschierten durch die Straßen, schwenkten Fahnen und grölten Sprüche, die Klein Manfred nicht verstand. Mit zehn gewann der Alltag an Tempo: Wechsel aufs Gymnasium mit täglicher Bahnfahrt ins 15 Kilometer entfernte Bad Merseburg und Aufnahme ins Jungvolk. "Der deutsche Junge ist zäh wie Leder, flink wie ein Windhund und hart wie Kruppstahl", lautete das Motto. Die Uniform war schmuck, Widerspruch wurde nicht geduldet, unbedingter Gehorsam, den er von zu Hause nicht kannte, war Pflicht. "Spaß machte es trotzdem. Wir lernten Lieder, machten Geländespiele und wurden mit nationalsozialistischem Gedankengut vertraut gemacht", schreibt der Autor. Der Vater, als Offizier aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen und überzeugter Deutsch-Nationaler, der den Nationalsozialismus ablehnte, geißelte das Jungvolk als "vormilitärische Ausbildung".

Immer wieder reflektiert Liedtke seine Ansichten und sein Verhalten, gibt aus der Sicht eines gereiften Menschen zu: Zweifel hätten eigentlich entstehen müssen. Konnten sie aber nicht. Bei den Jungen kam ausschließlich Parteipropaganda an, verbreitet durch den Volksempfänger und den "Völkischen Beobachter". Die Lehrer behielten, wie viele andere auch, ihre Kritik aus Angst vor Repressalien für sich. "Wir hatten keine Wahl, etwas anderes zu sehen, als das, was uns nahegebracht wurde. Wogegen hätten wir Widerstand leisten sollen? Wir waren doch mit unserem Leben vollauf zufrieden", schreibt Liedtke. Er und seine Mitschüler ließen sich begeistern, fanden es toll, wie "unser Land immer mehr an Ansehen und Wohlstand gewann".

Manfred entdeckt die Liebe, erst zur roten Inge, ritzt "I+M" ins Holz des Zuges - bis mitten hinein in den Zweiten Weltkrieg fährt er immer wieder in diesem Abteil, empfindet Vertrautheit beim Blick auf die beiden verbundenen Buchstaben. Das Pflichtjahrmädchen Anne ist hübsch, Manfred ganz plötzlich schüchtern. "Damals dauerte es drei Tage oder länger, sich mit einem Mädchen zu verabreden. Heute geht das sekundenschnell", sagt Liedtke. Er kann mit seiner Anne nicht einfach nach Hause gehen und mit ihr schlafen. Und die Vernunft rät ihm ab, schon in wenigen Tagen steht er als Luftwaffenhelfer an der Flak. Doch die Lust gewinnt, die beiden lieben sich im Stroh einer Feldscheune.

Die Lehrer kamen in die Flak-Stellung und brachten physikalische Geräte mit

Mit 16 endet die Schulzeit, Manfred wird Höhen-Richtschütze, verteidigt nachts die Buna- und Leuna-Werke gegen britische Bomben und lernt tagsüber. Die Lehrer kommen in die Flak-Stellung, bringen sogar die Geräte für physikalische und chemische Experimente mit. Fliegeralarm unterbricht den Unterricht, die Jungen stürmen zu den Geschützen, Helm und Gasmaske haben sie ständig dabei. "Unsere Begeisterung wich allmählich Unmut, Nachdenklichkeit und Verärgerung", heißt es im Buch. Die Flakhelfer fühlen sich weggesperrt, ihrer Jugend beraubt. Angesichts drei toter junger Luftwaffenhelfer verzichten die Lehrer darauf, "uns Humanismus zu vermitteln".

Liedtke meldet sich als Kriegsfreiwilliger, will zur Marine, anschließend Medizin studieren. Die SS will ihn gewinnen, er lehnt ab, mit Folgen: Manfred wird zur Panzertruppe eingezogen, noch vor seinem 17. Geburtstag. Die Ausbildung beginnt, ein Martyrium, bei dem die künftigen Soldaten drangsaliert und geschliffen werden, wie Liedtke schreibt. Aber er lernt Ernst kennen, die beiden halten künftig zusammen wie Pech und Schwefel. Das Duo lernt den Tigerpanzer kennen, 700 PS unter der Haube der 56 Tonnen schweren Kriegsmaschine. Beim Einsatz gegen polnische Partisanen verschafft ein Granatsplitter dem Panzerfahrer den ersten Heimaturlaub.

Sein Freund Ernst stirbt an der Ostfront durch einen Granatsplitter

Er besucht die Militärschule in Breslau, wird Panzerkommandant, fährt vor dem Einsatz an der Ostfront im März 1944 nach Hause. Seine große Liebe Anne muss als Nachrichtenhelferin nach Berlin, den beiden bleiben zwei gemeinsame Tage bis zur Trennung, "Tage einer inneren Zerrissenheit, wie ich sie nur noch einmal erleben musste. Tage, die ich in meinem Leben nie vergessen und über die ich auch nie wieder gesprochen habe". Wieder an der Ostfront, wieder im Kampf gegen die sowjetischen T-34-Panzer erwischt es seinen Freund. Ein Granatsplitter hatte seinen Bauch aufgerissen. "Ich kniete nieder, nahm meinen Kopf auf seinen Schoß und konnte nicht aufhören zu weinen", beschreibt Liedtke diesen schrecklichen Moment. Ernst wird, wie so viele andere, irgendwo in fremder Erde begraben. Niemand wird ihn je besuchen können - dieser Gedanke, so erinnert sich der Autor, war fast genauso verstörend wie der Tod des Mannes, der fast wie ein Bruder für ihn war.

Liedtke gerät mit seinem Panzer in eine Falle, verlässt mit seinen Leuten das manövrierunfähige Fahrzeug, will nicht aufgeben, fürchtet die russische Gefangenschaft. Das Letzte, was er sieht, ist ein russischer Soldat, der auf ihn zuläuft und "gar nicht aussieht wie ein Untermensch". Ein Schlag auf den Kopf beendet das Bewusstsein, mit schwerer Gehirnerschütterung und einem Schädelbasisbruch wacht er im Krankenhaus wieder auf. Ihm wird wegen Tapferkeit vor dem Feind das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen. Doch ihn beschäftigen die süße Krankenschwester und das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. "Für mich sind die Attentäter zwar mutige Männer und Frauen gewesen, aber eben keine Helden. Helden wäre der Anschlag geglückt", schreibt Liedtke. So aber brachte der Misserfolg für "unser Volk Tod und Verderben bis zum Schluss".

Gegen Kriegsende will Liedtke sein Land vor dem Schlimmsten bewahren

Menschlichkeit prägt sein Handeln, er selbst nennt realistischen Humanismus als seinen moralischen Überbau. Der ließ ihn auch handeln, als Soldaten einen geistig behinderten Gefreiten drangsalierten. Liedtke, inzwischen zum Leutnant befördert, rettet den Mann, den zwei Unteroffiziere und zwei Feldwebel nackt unter die Dusche gestellt hatten. Sie hatten ihm gedroht, ihn zu erschießen. Die geistige Umkehr setzt ein. Als Liedtke beim Heimatbesuch die Fragen der Jungen vom Jungvolk beantworten muss, lügt er und lobt die neuen Waffen. Als er selbst an deren Stelle saß, war er überzeugt, sich für eine gute Sache einzusetzen. "Jetzt war ich nur noch davon überzeugt, alles tun zu müssen, um unser Land vor dem Schlimmsten zu bewahren." Das gelingt. Als er und seine Leute eine Brücke in die Luft sprengen sollen, schont er die Zivilisten des Marktfleckens an der Donau so weit wie möglich, erhält durch geschicktes Vorgehen einen Gasthof.

Sich auseinandersetzen, sich Gedanken machen, und sich erst dann eine Meinung bilden und entscheiden - so geht Liedtke durchs Leben und meistert den oft schwierigen Alltag. Er handelt pragmatisch, hängt der Vergangenheit nicht nach und kann gut organisieren, was ihm später in amerikanischer Gefangenschaft viele Vorteile verschafft.

In der DDR erlebt er zum zweiten Mal was eine Diktatur bedeutet

Doch im entscheidenden Moment widersetzt er sich dem Rat seiner amerikanischen Freunde, entscheidet sich gegen den Kauf einer alten Fabrik und für ein Leben bei den Eltern in der neu gegründeten DDR. Dort erlebt er zum zweiten Mal, was Diktatur bedeutet. Seine Vergangenheit als Wehrmachtsoffizier und die seines Vaters, ebenfalls Offizier, versperren ihm den Weg zum Pharmaziestudium. Er wird schikaniert und bespitzelt. Als sich ihm ein Spitzel offenbart, beschließt Liedtke, in den Westen zu fliehen. Gut geplant und konsequent ausgeführt, verlässt er die U-Bahn im Westteil Berlins. Er verkauft Staubsauger und landet schließlich bei der Lufthansa, wo er bis zur Rente einen guten Job hat, um die Welt reist und jetzt mit seiner Frau Erika in einem Norderstedter Altenpflegeheim lebt. 59 Jahre sind sie verheiratet und wollen bis zum 60. Hochzeitstag durchhalten. Sein Leben hat ihn gelehrt: Die Hoffnung stirbt zuletzt, "und die Kraft der Liebe wird uns helfen".

Die Erinnerungen von Manfred Liedtke sind in limitierter Auflage erschienen. Weitere Infos gibt es per E-Mail unter MaLi-26@wtnet.de . Wer ebenfalls Geschichten seines Lebens aufschreiben und veröffentlichen will, kann sich an die Norderstedter Erinnerungswerkstatt wenden. Weitere Informationen über die Arbeit der Erinnerungswerkstatt gibt es unter Telefon 040/94 79 89 19 und unter www.erinnerungswerkstatt-norderstedt.de im Internet.