Gericht lässt Vorwurf der versuchten Geiselnahme fallen und verhängt Bewährungsstrafe

Bad Segeberg . Am Ende des gut achtstündigen Verhandlungstages stand ein Deal. Ein Deal, den Verteidiger Volker Sprick gegenüber seiner Mandantin als einen "Riesensieg" bezeichnete. Denn die Anklage war schwerwiegend und las sich wie ein Streifzug durch die gesamte Strafprozessordnung: versuchter erpresserischer Menschenraub, Nötigung, Körperverletzung, Führen einer Schreckschusswaffe und zweimal Fahren ohne Fahrerlaubnis.

Auf der Anklagebank im Amtsgericht Bad Segeberg saß die 46-jährige S. aus einem kleinen Ort im Segebergischen, verheiratet, ein erwachsener Sohn. Die Ehe: nur noch eine Formalie, die Finanzen eher desolat. S. war auf der Suche nach etwas Glück. Im Internet lernte sie im Jahr 2007 über eine Spieleplattform unter anderem die 37-jährige N. aus der Schweiz kennen. Und S. begann ein Parallelspiel, das sie letztlich vors Gericht brachte.

Die Angeklagte gab sich im Internet als "Dr. Stephan Kaiser" aus

Sie verpasste sich eine andere Identität: Dr. Stephan Kaiser, Herzchirurg und Oberarzt am Universitätsklinikum Kiel. Beide lernten einander kennen, per Telefon und per E-Mail; die Gespräche wurden intensiver, sie telefonierten Tag und Nacht. "Wir verliebten uns ineinander", sagte S. vor Gericht. Für sie war das kein Problem, denn S. ist bisexuell, hatte schon eine zehnjährige Beziehung zu einer anderen Frau, die sie für N. beendete. Doch die Schweizerin hatte sich in Stephan Kaiser verliebt, einen gut aussehenden Mann, 1,90 Meter groß und schlank. Die Fotos, die sie bekam, waren gefaked.

Der nächste Schritt wäre zwangsläufig ein Treffen. Das wollte die Schweizerin auch, denn N. plante ihre Zukunft mit dem attraktiven Dr. Stephan Kaiser aus dem Norden. Und S. sprach sogar vom Heiraten.

Doch ein Treffen? Und nun begann das, was jetzt im Gericht bei allen ungläubiges Staunen und Kopfschütteln hervorrief. Über vier Jahre gelang es S., ihre Freundin in der Schweiz hinzuhalten, ein Treffen zu verhindern - mit allen nur erdenklichen Ausreden. Sie erfand Krankheiten für Stephan Kaiser, sogar ein Unfall wurde gedanklich konstruiert, mit schweren Folgeschäden.

Ihre tatsächlichen Besuche in der Schweiz verheimlichte die Angeklagte der Freundin. Einmal fuhr sie mit ihrem Mann, wollte angeblich eine Bekannte treffen, dann wieder fuhr sie allein. Dorthin, wo N. wohnte, beobachtete sie.

S. wollte eigentlich das Spiel beenden, wollte sich outen, der Freundin sagen, dass sie eine Frau sei. So schilderte sie es dem Gericht. Am 11. April 2011 fuhr sie in die Schweiz - obwohl sie keinen Führerschein besaß -, mit dabei in einem Leinenbeutel eine Schreckschusspistole, ein Messer mit 20 Zentimeter langer Klinge, sechs Ampullen Kaliumchlorid (in dieser Menge für einen Menschen tödlich), andere Medikamente, Latexhandschuhe, Seile (angeblich für ein Katzengitter) und eine Perücke.

Was in der Schweiz geschah, bezeichnete Staatsanwalt Thomas Ronsfeld als "bizarr". Die Angeklagte kam unter einem Vorwand ("Blumen für N...) bis zur Wohnungstür, die N., weil sie ängstlich ist, nur einen Spalt öffnete.

S. wollte hinein, suchte im Leinensäckchen nach der Pistole. Es gab ein Gerangel, S. drängte in die Wohnung, N. schrie und riss ihr die Perücke vom Kopf. Die Angeklagte biss sie in den Oberarm. Ein Nachbar erschien, S. flüchtete. Aufgeschreckt durch die Schreie kam ein Nachbar und half N. S. flüchtete, wobei sie Pistole, Leinensack und Brille zurückließ.

Die Angeklagte muss 500 Euro Schmerzensgeld zahlen

"Eine irre Geschichte", mag wohl jeder in Saal 2 des Segeberger Amtsgerichts gedacht haben. Vieles war verständlich, manches nicht nachzuvollziehen oder zu klären. Immer wieder versicherte die Angeklagte, sie habe ihrer Freundin nicht schaden, sie nicht töten wollen. "Ich wollte eine Aussprache." Doch wozu dann die mitgeführten sechs Ampullen Kaliumchlorid? Der psychiatrische Sachverständige bezeichnete die Angeklagte als nicht vermindert schuldfähig.

Nach einer knappen Stunde stand der Deal. Von der Anklage blieben Nötigung, Körperverletzung, zweimal Fahren ohne Führerschein und Führen einer Schusswaffe. Dafür erhielt S. ein Jahr auf Bewährung (drei Jahre). Und sie muss 500 Euro Schmerzensgeld an N. zahlen. "Was in Ihrem Kopf vorgegangen ist, wissen wir nicht. Doch was in der Schweiz passiert ist, war nur die Spitze des Eisbergs", bemerkte Richterin Sabine Roggendorf.