Eine Tageszeitung bringt regelmäßig eine Rubrik, in der die Leserschaft Fragen einsendet, die sie in Gewissenskonflikte gebracht haben. Immer geht es um Notlügen oder um andere Verhaltensweisen, die eigentlich nicht akzeptabel, aber unter bestimmen Umständen vielleicht doch verständlich sind.

Eine ähnliche Frage möchte ich heute aus gegebenem Anlass stellen: Wie viele moralisch vertretbare Gründe gibt es, Blumen zu stehlen? Ich würde zumindest die folgende Notlage als legitimierend für die eigentlich verwerfliche Tat ansehen: Jemand sieht, leider völlig mittellos, einem Rendezvous entgegen, und in seiner Verzweiflung, der Liebsten und Umworbenen mit leeren Händen entgegentreten zu müssen, entschließt er sich...

Aber eine zweite Frage stellt sich aus dem noch zu erläuternden Anlass. Ist es dabei unerheblich, von welchem Ort er sie entwendet?

Ob der oder die Täter überhaupt in Gewissensnöte geraten sind, als sie heute vor einer Woche Blumen von der Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus entfernten, ist noch unklar. Ob sie gezielt und beabsichtigt die Blumen von diesem Ort am Wittmoor nahmen, ebenfalls. Einen Tag später, am 9. November hat anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht 1938 an der rasch neu bepflanzten Stätte eine Gedenkfeier stattgefunden. Persönlichkeiten unserer Stadt Norderstedt erinnerten auf Einladung des Vereins Chaverim - Freundschaft mit Israel zusammen mit einem jüdischen Rabbiner in ihren Worten an die Schicksale jüdischer Mitbürger und der anderen Verfolgten des Nazi-Regimes, die Opfer des Terrors geworden sind.

Nicht zum ersten Mal wurde Hand an diesen Ort gelegt. Die Ziffer "6", die im Text der Inschrift auf die Anzahl der Millionen Ermordeter hinweist, wurde bereits mehrfach entfernt. Auch die Bepflanzung musste schon einmal ersetzt werden.

Ein Ort des Gedenkens steht für die Menschen und Ereignisse, an die er erinnert. Wer diesem Ort Schaden zufügt, beschädigt auch die Opfer. Und er schändet die Erinnerung, mit der den Ermordeten ihre Namen und ihre Würde zurückgegeben werden sollen. Was am 9. November 1938 geschah, ist immer weniger Zeitgenossen bekannt, und eine aktuelle Umfrage weist aus, dass jeder zehnte Deutsche mit einem "geschlossen rechtsextremen Weltbild" lebt.

Wer das Erinnern schützen und stärken will, wird auch die Orte schützen müssen, an denen wir Namen nennen, Gebete sprechen, schweigen, mahnen und eine Gesellschaft mitgestalten wollen, in der sich ähnliches nicht wieder ereignen kann.

Michael Schirmer, Pastor in der Kirchengemeinde Vicelin-Schalom