Innerhalb einer Dokumentations-Reihe wird die Norderstedterin Christina Helmis heute auf Viva über ihre Magersucht berichten.

Norderstedt. Christina Helmis wird die Erinnerungen nie ablegen. Daran, wie sie als Teenagerin ihre Freiheit verlor, wie sie jahrelang mit Klinikaufenthalten und Therapiesitzungen um ein neues Leben kämpfte. Jede Waage war ein Dämon, jede Kalorie ein Feindbild. Wer an der Essstörung Magersucht leidet, dessen Persönlichkeit ist hiervon nachhaltig geprägt. Viele bleiben ein Leben lang Patienten - körperlich und psychisch. Nicht aber Christina. Ihre Geschichte endet nicht am Tiefpunkt. Sie isst wieder, was sie möchte, sie hat ein positives Verhältnis zu ihrem Körper, eine akademische Perspektive und ist fast täglich sportlich aktiv.

Die Norderstedterin, heute 23 Jahre alt, lächelt, wenn sie ihre Vergangenheit beschreibt. Es fällt ihr leicht, weil sie die Wende vollzogen hat. "Ich wog nur noch 33 Kilo. Auch bei mir haben viele gesagt, dass ich es wohl nicht schaffen werde - auch viele Ärzte. Am Ende war nur noch meine Familie für mich da. Viele geben sich dann auf", sagt sie. Christina musste Grenzerfahrungen durchstehen, die den meisten Jugendlichen fremd sind. "Durch die Krankheit wurde ich erwachsener. Ich war erstmals mit 15 in der Klinik. Vorher hatte ich mich anders empfunden, als nicht so dünn. Ich hatte ein gestörtes Körperbewusstsein."

Für die entscheidenden Schritte musste Christina selbst sorgen

Niemand konnte ihr garantieren, dem Kreislauf zu entkommen. Für die entscheidenden Schritte musste sie selbst sorgen. Und längst nicht jede Persönlichkeit ist hierfür stark genug. "Ich kenne Mädchen, die jedes Jahr in einer Klinik sind und das vielleicht sogar ihr Leben lang. Die meisten haben Rückfälle, das kann man mit trockenen Alkoholikern vergleichen.

Man ist nie komplett geheilt, weil man jeden Tag etwas essen muss und irgendwann im Leben wieder Probleme bekommen wird."

Christina bekam den Spiegel vorgehalten - real wie auch im übertragenen Sinne. Als sie ein zweites Mal in eine psychosomatische Klinik eingewiesen wird, war sie in Lebensgefahr. Wie kann jemand seine Existenz einfach so wegwerfen, mögen sich Unwissende fragen. Eine konkrete Antwort gibt es nicht, aber Christina erklärt, wie sich die Krankheit aufbaut. "In Zeitschriften sieht man die perfekten, makellosen Menschen. Und viele Teenager haben eben nicht das ausgeprägte Selbstbewusstsein. Sie gucken sich dann die Bilder an und denken, wie toll die Stars alle aussehen. Und dann gibt es die Model-Shows im Fernsehen, bei denen auch nur unterernährte Mädchen genommen werden." Wenn dann noch in der Schule Beleidigungen wie "Moppelchen" oder "Dickerchen" fallen, kann dies schon der Auslöser sein. "Entweder man wandelt das in Wut um, oder man zieht sich immer weiter zurück", sagt Christina. "Dadurch kann eine Essstörung entstehen."

Dass sie eines Tages ein bundesweites Forum haben würde für ihr Schicksal, damit konnte allerdings niemand rechnen. Zwar stand die ehemalige Schülerin des Gymnasiums Harksheide - Abitur-Jahrgang 2009 - schon als Mädchen gerne auf der Theaterbühne. "Ich weiß nicht, woher die das in der Klinik wussten", sagt sie. Christina landete im Privatfernsehen bei RTL2 und Sat.1 als Beispiel für eine an Magersucht leidende junge Frau. Im Nachhinein ist sie damit nicht glücklich. Die Story stand im Mittelpunkt, nicht die Person. "Das war auf Sensation gemacht."

Doch es war erst der Anfang. Das Konzept eines autobiografischen Jugendbuches (Mein Lollimädchen-Ich - Mein Leben mit der Magersucht, Arena-Verlag, 2010), das ihr die Autorin Kerstin Dombrowski vorstellte, war ungleich reizvoller. Christina erzählte der Schriftstellerin ihr Leben - unverfälscht, teilweise schockierend, ehrlich. "Das war total neu, weil ich es davor nur irgendwelchen Therapeuten erzählt hatte. Und die haben immer nur die Krankheit im Hinterkopf."

Sie sagt, dass es eine heilende Wirkung hatte, ihren Kampf für ein neues Leben aufzuschreiben. "Aber eigentlich war das gar nicht so gedacht. Es sollte für andere Betroffene da sein, damit die Mut fassen und einen Ansatz bekommen, es wieder heraus zu schaffen."

Der Name Christina Helmis - auf ein Pseudonym verzichtete sie bewusst - ist mittlerweile bekannt. Über 10 000 Exemplare des Buches wurden verkauft, sie las auf der Leipziger Buchmesse, hielt weitere Lesungen und in Schulen Vorträge, und kommt sogar als Fallbeispiel in Facharbeiten vor.

Die Spiegel im Fitness-Studio sind kein Problem mehr für Christina

In gewisser Weise ist Christina jetzt routiniert darin, sich mitzuteilen. Nur eines ist ihr wichtig: Sie möchte mit eigenen Worten erzählen. So wie heute Abend im Fernsehsender Viva. Als Teil einer neuen Dokumentations-Reihe wird Christina über ihre Krankheit berichten und darüber, wie sie diese kontrollieren konnte. "180 Grad" heißt das Format, das heute um 20.15 Uhr ausgestrahlt wird. Gedreht wurde in Norderstedt bei Christina zu Hause und am Gymnasium Harksheide, in Berlin sowie in Bayern. Dort besuchte sie ihre alte Klinik. "Das war mir wichtig. Ich wollte sehen, wie ich mich fühle und habe mich gesehen, wie ich damals dort war. Aber ich wusste auch, dass ich abgeschlossen habe. Ich war nur ein Besucher."

Und wie wird es weitergehen mit ihr? "Ich denke, dass meine Geschichte fertig erzählt ist." Sie gibt zwar gerne Ratschläge, etwa über Facebook, doch sie wird es nicht zu ihrem Lebensinhalt machen. "Ich wollte beruflich nie in Richtung Therapie gehen - das würde mir auch zu sehr zusetzen." Christina möchte sein wie viele andere junge Menschen. Normal. Frei. Und mit Ambitionen.

Gerade erst hat sie an der Universität Hamburg ihren Bachelor-Abschluss gemacht im Studienfach Molekularbiologie/Biochemie. Das Thema: "Die Rolle von Inositolhexakisphat unter physiologischen und pathophysiologischen Bedingungen". Die Note: 1,3. Die Türen für die Zukunft stehen ihr offen - für das Masterstudium ab diesem Semester und anschließend für die von ihr anvisierten Doktoren- und Professorentitel. "Ich bin ein Labormensch geworden und das macht mir so auch Spaß."

Dann verabschiedet sie sich und fährt ins Fitness-Studio. Dort hängen Dutzende Spiegel. Aber das ist kein Problem mehr für Christina Helmis. "Die Klamotten passen, man sieht sich im Spiegel und fühlt sich gut."