Wer Geschichten seines Lebens veröffentlichen will, kann in der Norderstedter Erinnerungswerkstatt mitarbeiten. Sie wurde 2004 gegründet.

Norderstedt. Eine Welt, in der es noch kein Fernsehen, keinen Computer und kein Internet gab und in der Handys noch nicht das Straßenbild und den Alltag prägten - solch eine Welt können sich viele junge Menschen sicherlich kaum vorstellen. Die Senioren der Erinnerungswerkstatt Norderstedt schon, denn sie haben diese Zeit nicht nur selbst miterlebt, sondern können heute auch als Zeitzeugen von den großen und kleinen Dingen berichten, die sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben.

Der 88 Jahre alte Ernesto Potthoff ist so ein Mann, der in seinem Leben schon viel erlebt hat. Der Norderstedter lebte bis zu seinem 68. Lebensjahr in Argentinien, hat dort 45 Jahre seine eigene Zeitschrift verlegt, ist kreuz und quer durch die Welt gereist und hat beispielsweise Anfang der 80er-Jahre als Journalist über den Falklandkrieg berichtet.

Auch wer nicht druckreif formulieren kann, ist in der Werkstatt willkommen

Der Schiffsbauspezialist und Journalist war im Jahr 2004 dabei, als in Norderstedt die Erinnerungswerkstatt gegründet wurde. Mehr als 100 Geschichten hat der weit gereiste Senior seitdem veröffentlicht - er ist der fleißigste Schreiber der Erinnerungswerkstatt.

Die Erinnerungswerkstatt besteht aus einer Gruppe aktiver Norderstedter Senioren, denen es am Herzen liegt, als Zeitzeugen ihre eigenen Geschichten nicht nur im privaten Kreis zu erzählen, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Natürlich hat nicht jedes Mitglied der Erinnerungswerkstatt ein derart bewegtes Leben hinter sich und verfügt auch nicht über so viel Schreib-Erfahrung wie Ernesto Potthoff. Das macht aber nichts: Die Werkstatt steht auch ausdrücklich Männern und Frauen offen, die eben nicht druckreif formulieren und schreiben können und die noch Unterstützung brauchen, um ihre Geschichten zu Papier zu bringen. In der Erinnerungswerkstatt gibt es genügend Mitstreiter, die den eingereichten Geschichten den letzten Feinschliff geben.

"Wir sind keine Historiker, und unsere Geschichten findet man nicht in Büchern oder im Schulunterricht, aber sie sind passiert", sagt Potthoff und betont damit, dass die Erinnerungswerkstatt keine Fantasiegeschichten veröffentlicht. Häufig gibt es Bilder oder alte Dokumente zu den Geschichten. Sie verleihen den Texten damit nicht nur mehr Leben, sondern auch Authentizität. Ein Computer ist übrigens kein notwendiges Hilfsmittel, um an der Norderstedter Erinnerungswerkstatt teilnehmen zu dürfen. Die Geschichten können auch mit der Schreibmaschine getippt oder handschriftlich eingereicht werden.

Dem 88-jährigen Ernesto Potthoff fehlt die Zeit, um alles aufzuschreiben

"Als ich am nächsten Morgen durch den Rundfunk erfuhr, dass wenige Stunden nach meiner Abfahrt, genau an dieser Stelle, eine blutige Schlacht stattgefunden hatte, wurde es mir ganz mulmig zumute", heißt es in einem von Potthoffs Erinnerungsstücken aus seiner Zeit in Argentinien. Auf die Frage, ob er nicht irgendwann alle Geschichten seines Lebens aufgeschrieben habe, antwortet er: "Es gibt einen argentinischen Spruch: ,Der Vogel singt, bis er stirbt'." In 88 Lebensjahren habe sich so viel ereignet, er habe gar nicht so viel Zeit, um alles niederzuschreiben. Und Potthoff ermutigt auch andere, ihre Lebensgeschichten aufzuschreiben.

"Man bekommt so viel zurück", sagt er und erzählt von Menschen, die sich nach einer Veröffentlichung bei ihm gemeldet haben, weil sie Ähnliches erlebt haben oder die Menschen aus den Geschichten selbst kannten. "Einmal schrieb mir eine Frau, die sich in einer meiner Geschichten wiedergefunden hat. Ich hatte über die internierten Deutschen in Argentinien geschrieben, die später zu Kriegsgefangenen wurden. Sie war als Dreijährige ebenfalls in eines der Kriegsgefangenenlager gebracht worden."

Potthoff hat auch die Geschichte von Harald Kolumbe in die Erinnerungswerkstatt gebracht. Kolumbe hat seine Jugend in Glashütte verbracht und steht seit der ersten Stunde, seit 40 Jahren auf dem Wochenmarkt in Garstedt und verkauft dort die Produkte seines Hofes. In seiner Geschichte beschreibt er, wie er früher Hitlerbriefmarken bei den britischen Alliierten gegen Schokolade und Weißbrot getauscht hat.

Die ausgewählten Geschichten werden im Internet veröffentlicht

Veröffentlicht werden die Geschichten im Internet auf der Seite www.erinnerungswerkstatt-norderstedt.de . Die Resonanz bisher ist beachtlich: Pro Monat besuchen immerhin etwa 5000 Menschen die Internetseite, wobei nur diejenigen gezählt werden, die dort mindestens 15 Minuten verweilen.

Außerdem treffen sich die Mitglieder jeden zweiten Dienstag im Monat, um neue Geschichten vorzulesen und über diese zu diskutieren. Immer wieder fragen auch Journalisten oder Wissenschaftler an, wenn sie für eine Story oder eine wissenschaftliche Arbeit mit Zeitzeugen sprechen möchten. Oder Seniorenheime erkundigen sich, ob sie die Geschichten zum Vorlesen oder für die Heimzeitung nutzen dürfen.

Weitere Informationen über die Arbeit der Erinnerungswerkstatt gibt es unter Telefon 040/94 79 89 19 und unter www.erinnerungswerkstatt-norderstedt.de