Gerrit Hobe aus Henstedt-Ulzburg betreut ein Jahr lang in Kolumbien Waisen und traumatisierte Kinder. Er berichtet über seine Erlebnisse.

Meine Zweifel sind verflogen. Ich kann sagen, dass ich unglaublich froh bin, an einem Ort mit so vielen offenen und herzlichen Menschen gelandet zu sein. Fast fünf Monate sind inzwischen vergangen, seitdem ich am Morgen des 1. September meine Reise nach Kolumbien angetreten habe. Monatelang hatte ich auf diesen Tag hingefiebert, an dem ich das Kinderheim "Futuro Juvenil" erreichen würde, in dem ich für ein Jahr im Rahmen des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes arbeiten will. Ich hatte mich von allen Freunden und der Familie verabschiedet und die wichtigsten Dinge wie Kleidung, Sonnenschutz und meine neue Slackline im Koffer verstaut - ein relativ stabiles Band, das zwischen zwei Bäumen gespannt wird und zum Balancieren einlädt.

Als ich nach dem Abschied am Flughafen alleine im Flieger Platz nahm, kamen mir zum ersten Mal so richtige Zweifel an meiner Idee, ein Jahr in einem anderen Land zu verbringen. Aufgrund meiner rudimentären Spanischkenntnisse war eine Vielzahl von Missverständnissen programmiert, und mit einem Mal konnte mich auch der Gedanke, eine ganz neue Kultur kennenzulernen, nicht mehr so recht begeistern. Aber ich saß im Flieger, hatte mich entschieden und war nun unterwegs.

Der größte Teil der Bevölkerung lebt in ärmlichen Wellblechhütten

Bei meinem Zwischenstopp in Frankfurt traf ich auf meine Einsatzpartnerin Doreen, die im selben Kinderheim arbeiten würde wie ich. Nach zwölf langen Stunden landeten wir endlich in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens, gleichzeitig wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Landes. Bogotá gehört zu den am schnellsten wachsenden Metropolen Südamerikas und zählt mittlerweile schon mehr als acht Millionen Einwohner.

Im Norden der Stadt finden sich schicke Ausgehviertel und Wohnanlagen für die Oberschicht Kolumbiens. Der überwiegende Anteil der Bevölkerung lebt allerdings in ärmlichen, provisorischen Wellblechhütten im Süden der Stadt, von denen sich selbst die Polizei in der Regel fernhält. Eine Stadt voller Kontraste, die sich trotz aller Probleme seit Anfang der 90er-Jahre von einer "No-go-Area" zu einem beliebten Reiseziel für Südamerikatouristen gemausert hat.

Zu meiner Überraschung ging es am Flughafen denkbar unspektakulär zu. Hätte man es nicht besser gewusst, hätte man meinen können, man sei noch in Europa: ein modernes Flughafengelände, angenehme 15 Grad und eine gut organisierte Passkontrolle bei der Einreise. Am Ausgang wartete eine kleine, fröhliche Kolumbianerin um die 60 namens Genidis, die für das nächste Jahr meine Chefin sein würde. Obwohl ich von ihren Begrüßungsworten bestenfalls die Hälfte verstand, waren meine Zweifel wie weggeblasen, und es breitete sich eine unbändige Vorfreude auf das bevorstehende Jahr in mir aus.

Der Verkehr in Bogotá ist der Wahnsinn, Regeln scheint es nicht zu geben

Als Doreen und ich zu Genidis ins Auto stiegen, sprach die Heimleiterin zu meiner Verwunderung ein kurzes Stoßgebet. Doch als wir kurz darauf den Flughafenparkplatz verließen, konnte ich es plötzlich nachvollziehen. Der Verkehr in Bogotá ist einfach der Wahnsinn! Wegen des hohen Verkehrsaufkommens darf jedes Auto nur an drei der fünf Werktage bewegt werden. Trotzdem sind die Straßen zu jeder Tageszeit völlig überfüllt.

Verkehrsregeln scheinen nicht zu existieren oder sich meinem deutschen, in geordneten Bahnen verlaufenden Verständnis vollkommen zu entziehen. Ich lernte, dass sich Spurwechsel und Vorfahrt auch allein durch hupen regeln lassen, und im Zweifelsfall die Devise gilt: Wird schon irgendwie gut gehen.

Selbst die zahlreichen Radfahrer haben alle eine Trillerpfeife im Mund, um sich ordnungsgemäß am Verkehrsgeschehen beteiligen zu können. In mitten dieses unübersichtlichen Treibens behalten einige kolumbianische Händler die Nerven, transportieren ihre Waren mit Hilfe von Pferdekarren zum Markt und machen so das Chaos perfekt. Erst jetzt merkte ich, dass ich in einer völlig anderen Welt gelandet war.

Nach meiner ersten Nacht in Bogotá machte ich mich am nächsten Morgen mit Genidis und Doreen auf den Weg zum Kinderheim "Futuro Juvenil". Nach einer eineinhalbstündigen, abenteuerlichen Fahrt über kurvige Gebirgsstraßen erreichten wir schließlich das kleine, sympathische Dorf "La Mesa" und kurz darauf das Kinderheim. Der erste Anblick meines neuen Zuhauses auf Zeit ist wohl eines der Bilder, die mir noch sehr lange im Gedächtnis bleiben werden: 64 strahlende Kindergesichter, die für uns ein Willkommenslied singen und ein Spruchband mit der Aufschrift: "Bienvenidos!" ("Herzlich Willkommen") in die Höhe halten. Kaum hatten sie ihr Lied beendet, kamen die Kinder auf uns zu und zeigten uns voller Stolz ihr Zuhause.

Die Kinder im Alter von vier bis 18 Jahren werden von sechs Erzieherinnen und einer Pädagogin betreut. Eine Psychologin arbeitet mit den Kindern in regelmäßigen Sitzungen die traumatisierenden Erlebnisse deren früherer Kindheit auf. Viele von ihnen haben drogenabhängige Eltern, wurden von ihren Eltern abgeschoben oder sind Waisen. Trotz ihrer schwierigen Vergangenheit wirken die meisten Kinder hier ausgesprochen fröhlich und zufrieden, was mich fasziniert und "Futuro Juvenil" für mich zu einem ganz besonderen Ort macht.

Mein Spanisch hat sich verbessert, ich habe meinen festen Tagesablauf

Inzwischen bin ich schon seit mehr als vier Monaten hier und habe mich richtig gut eingelebt. Meine Spanischkenntnisse haben sich verbessert, und ich habe meinen festen Tagesablauf. Vormittags erledige ich kleinere handwerkliche Tätigkeiten oder helfe dem Hausmeister Don Victor bei der Gartenarbeit. Da es konventionelle Rasenmäher in Kolumbien nicht zu geben scheint, wird der Rasen des riesigen Geländes ausnahmslos mit einer Motorsense bearbeitet - eine zeitaufwendige und schweißtreibende Angelegenheit.

Nachmittags, wenn die Kinder aus der Schule kommen, helfe ich ihnen bei den Hausaufgaben. Die meisten Kinder leiden unter starken Konzentrationsproblemen und brauchen deshalb jemanden, der sie immer wieder motiviert weiterzuarbeiten. Wenn ich die Kinder in dieser Phase erlebe, wie sie sich nicht einmal fünf Minuten konzentrieren können, wird mir immer wieder bewusst, dass sie halt doch keine Kindheit erleben durften, wie sie für die meisten deutschen Kinder ganz normal ist.

Nach den Hausaufgaben steht es mir frei, mit den Kindern zu unternehmen, was ich möchte. Wir spielen zusammen Fußball, Basketball oder bauen meine Slackline auf. Die Jungen und Mädchen haben Spaß daran, auf dem Spanngurt zwischen den Bäumen zu balancieren.

Mein erstes Fazit: Ich freue mich auf weitere sieben spannende Monate.