Anastasia Proyss kommt aus dem ehemaligen Ostpreußen und wird Deutsch-Lehrerin. Jetzt unterrichtet die 22-Jährige Russisch in Norderstedt

Norderstedt. Der Krach auf dem Flur ist ohrenbetäubend. Türen knallen, es wird gebrüllt, gepoltert, gegen Türen gebollert. Anastasia Proyss quittiert das turbulente Treiben einiger Schüler mit einem sanften Lächeln, dass sich von ihren Mundwinkeln bis in die dunkel glänzenden Augen zieht. Nein, das würde in ihrer Heimat Russland nicht vorkommen, aber ansonsten seien die Schülerinnen und Schüler genauso selbstbewusst und frei wie die des Gymnasiums Harksheide in Norderstedt.

Anastasia Proyss kommt aus Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg im ehemaligen Ostpreußen. Für ein Jahr probt die Studentin der Fächer Deutsch und Englisch den deutschen Schulunterricht - auf Russisch. "Der Unterricht ist hier freier, bei uns in Russland stehen beispielsweise die Tische nicht im Kreis, sondern in Reihen nach vorn zur Tafel gerichtet", sagt sie. Frontalunterricht nennt man das an deutschen Schulen, eine mittlerweile hierzulande nahezu abgeschaffte Art.

Anastasia Proyss ist in dem ehemals deutschen Dorf Cranz aufgewachsen

Die 22 Jahre alte Russin kam aus Liebe zur deutschen Sprache. Deutsch, vor allem deutsche Literatur, habe sie seit jeher begleitet: "Mein Vater hat russische Literatur studiert, aber neben den russischen Büchern lagen viele Bücher in anderen Sprachen, auch in Deutsch." Außerdem ist sie in einem Dorf, in Selenogradsk neben Kaliningrad aufgewachsen. "Das hieß früher Cranz und war ein deutsches Dorf genauso wie Kaliningrad als Königsberg eine deutsche Stadt war", sagt sie.

Eine Stadt mit deutscher Architektur und deutscher Geschichte. Und deutschen Touristen, Menschen, die auf den Spuren ihrer eigenen Geschichte nach Kaliningrad kommen. "Die haben uns Kindern immer Süßigkeiten geschenkt, das war üblich, und wir haben es geliebt", sagt Anastasia, genannt Nastja, und ihre Augen funkeln wieder. Obendrein lebt die Familie in einem alten, deutschen Schulhaus. "Vor sechs Jahren kamen einmal ehemalige Ostpreußen zu uns und haben von ihrem Leben im alten Cranz erzählt, das war sehr spannend", sagt sie. Das Dorf ist die älteste deutsche Siedlung in der Region und war ein Fischerdorf. Anastasias Großvater war Fischer und wurde auf Befehl der Regierung der ehemaligen Sowjetunion nach Cranz umgesiedelt, nachdem die letzten deutschen Bewohner ausgewiesen worden waren.

Demnächst startet sie ein Schulprojekt über das Alltagsleben in Russland

Ihr Vater ist in Cranz geboren, die Mutter kommt aus Ufa in Baschkortostan, einer russischen Republik am Ural.

2005 kam die Tochter erstmals nach Deutschland. "Selenogradsk und der Kreis Pinneberg haben eine Partnerschaft und darüber wurde ein Jugendaustausch organisiert", sagt sie. Ein ganzes Jahr habe sie bei einer Familie in Halstenbek gewohnt und ist auf der Integrierten Gesamtschule in Thesdorf zur Schule gegangen. "Wir sind heute noch befreundet, und ich wohne jetzt bei der Tochter meiner Gastfamilie in Hamburg", sagt sie. Nach diesem Jahr stand ihr Entschluss fest: "Ich studiere Deutsch auf Lehramt".

Da aber genügt Nastja immer noch nicht. Um ihr Deutsch zu perfektionieren, unterrichtet sie jetzt ein Jahr am Gymnasium Harksheide. Russisch, erst einmal als Assistentin des Russisch-Lehrers Juri Wilms. Der kommt auch aus Kaliningrad, wie Sigrid Krüger erzählt, Leiterin der Fachschaft Russisch am Gymnasium Harksheide. Demnächst übernimmt Anastasia eine Gruppe mit sechs Schülerinnen und Schülern, die sie allein unterrichtet, und startet mit einer zwölften Klasse eine Projektarbeit über das Alltagsleben in Russland.

Ihren Bachelor hat sie schon, nach dem Aufenthalt in Deutschland will sie ihren Master bauen. Am liebsten in Hamburg. Wenn das nicht geht, zu Hause in Kaliningrad. "Ich liebe Hamburg, es hat so viel Grün und viel Wasser, genauso wie Kaliningrad", schwärmt sie. Süddeutschland will sie noch kennenlernen. Obwohl: "Man hat mir gesagt, ich würde dort nichts verstehen, weil die Bayerisch sprechen", sagt sie und lächelt verschmitzt.

Zum 15. März laden Sigrid Krüger und Nastja Proyss zum russischen Abend

Doch vorher hat sie mit Sigrid Krüger am Gymnasium noch einiges geplant. Zum 15. März, ab 18 Uhr, laden Sigrid Krüger und Anastasia Proyss beispielsweise zum russischen Abend "Mein Kaliningrad" ins Gymnasium an der Falkenbergstraße 25 ein. "Wir zeigen Fotos aus Kaliningrad, es gibt russische Spezialitäten - eben ein bunter russischer Abend", sagt Krüger.

Weihnachten und Silvester fliegt Anastasia zu ihrer Familie. "Weihnachten feiern wir bei uns genauso wie die Familien hier", sagt sie. So groß seien die Unterschiede nicht zwischen dem heutigen Kaliningrad und Hamburg. Schließlich sei ihre Familie auch protestantisch wie die meisten Familien in Norderstedt, Halstenbek und Hamburg.

Die Pausenglocke schrillt. Der Unterricht geht weiter. Das Getöse vor der Tür ebbt allmählich ab, auch, weil Sigrid Krüger und Juri Wilms einschreiten. Nastja lächelt. Das jedenfalls gibt es nicht in Kaliningrad. Noch nicht.