Das Gymnasium Kaltenkirchen setzt auf die gezielte Förderung der individuellen Begabungen seiner 1250 Schülerinnen und Schüler.

Norderstedt. Jetzt haben sie das Wort. Eigentlich ist der Schultag für Ahmed Obeid, Kai Süßmilch und Hasan Vural schon beendet. Doch bevor es nach Hause geht, sprechen sie Klartext. "Der Neubau ist schön. Aber der Altbau sieht verschrumpelt aus", sagen sie. Oder: "Manchmal sind die jüngsten Lehrer auch die strengsten." Und wie ist das Mensaessen so? "Wir gehen meistens in der Mittagspause zu Rewe. Oder zu den Pizzaprofis. Hier schmeckt es nicht so."

Die flapsige Art der drei 14-Jährigen verdeutlicht aber: So schlimm ist es eigentlich gar nicht am Gymnasium Kaltenkirchen. Und vielleicht wird es Schulleiter Reinhard Redemund sogar gerne vernehmen, dass die Jungs ihre Gedanken offen aussprechen. Er selbst ist normalerweise ein Mann geschliffener Formulierungen. Doch seit Kurzem bedient er sich außerhalb der Klassenräume eines pragmatischeren Mediums, um seine Botschaft auch in der virtuellen Realität zu verbreiten. Maximal 140 Zeichen nämlich erlaubt die Internetplattform Twitter. Im Notfall muss dies genügen. Die klassische Telefonkette war gestern. "Jeder von uns aus der Leitung schreibt dort. Wenn es etwas Besonderes gibt - zum Beispiel schneefrei -, wird es dort eingetragen. Voraussetzung ist natürlich, dass alle ins Internet gucken", sagt Redemund.

Das Wachstum der Schule muss im Einklang mit einem Wir-Gefühl stehen

Dieses Detail ist ein Indiz dafür, dass es mit der klassischen Bildungsanstalt längst nicht mehr getan ist. Einerseits erwarten Schüler und Eltern, dass die Lernstandards stetig modernisiert werden - andererseits versteht sich das Gymnasium bereits als Marke. Reinhard Redemund bedient sich der Rhetorik eines PR-Experten, um dies zu erläutern. "Wir arbeiten sehr intensiv an unserer Corporate Identity. Die Idee einer Schulgemeinschaft ist aus einem Leistungskursus entstanden."

Damit trifft er den Ton. Für Schulsprecher Robin Spletstösser, seit der fünften Klasse am Flottkamp und 2012 Abiturient, muss das "Wir-Gefühl" analog zum Wachstum der Einrichtung bewahrt werden. "Es ist um einiges größer geworden. Es sind immer mehr Schüler, aber es ist auch fremder geworden", sagt er. "Wenn man in der 13. Klasse ist, sollte man eigentlich jeden kennen. Aber aus dem Lehrerzimmer kommt immer wieder ein neues Gesicht." Ein Bedürfnis führt er an, dass in den kommenden Jahren längst nicht nur Oberstufler äußern werden. "In Zeiten von G8 und der Offenen Ganztagsschule verbringt man immer mehr Zeit hier. Da muss man sich seine Nische schaffen." Im Optimalfall sollten die ältesten Jahrgänge ihre eigenen Räume zur Verfügung haben. Doch die ursprüngliche Oberstufenbibliothek fiel der Platznot zum Opfer - es wurden weitere Klassenräume benötigt. Als Provisorium dient derzeit die Mensa - doch es wird über eine Lösung diskutiert, in welchem Umfang und wo ein neuer Aufenthaltsraum eingerichtet werden kann.

Den Schülern wird Freiraum gegeben, ihre Stärken entfalten zu können

Die Gesamtzahl von 1250 Schülern macht das Gymnasium zum fünftgrößten in Schleswig-Holstein. Das Kollegium umfasst 83 Lehrer, 13 davon sind erst seit Sommer tätig. Angesichts dieser Dimensionen ist die Etablierung der erhofften kollektiven Identität ein schwieriger Prozess.

Für die Elternbeiratsvorsitzende Geelke Preschke ist dies aber nicht das beherrschende Thema. Sie hat einen wachsamen Blick auf die Praxis und kann der Fluktuation unter den Lehrkräften in diesem Zusammenhang etwas Positives abgewinnen. "Es gibt so keinen Stillstand. Man wird gezwungen, aufeinander zuzugehen, und das hilft im Alltag. Ich versuche anderen Eltern auch klarzumachen, dass es mit neuen Lehrern Chancen gibt - etwa, dass andere Stärken der Kinder entdeckt werden." Eines betont sie mit Nachdruck. "Schule soll fit machen für das Leben."

Die Hochschulreife als Fundament für den folgenden Karriereweg ist das eine Ziel. Schon vor dem Abitur gibt es parallel Kooperationen mit den Agenturen für Arbeit und dem Berufsinformationszentrum. Besondere Anstrengungen unternimmt das Kaltenkirchener Gymnasium darüber hinaus in der individuellen Betreuung. "Ein wichtiger Schwerpunkt bei uns ist die Begabtenförderung", sagt Redemund.

Hierbei handelt es sich um ein 2005 initiiertes Programm, das vom Bildungsministerium und der Sparkasse Südholstein finanziert wird. "Damit sind aber nicht nur Hochbegabte gemeint. Wir arbeiten nicht nur am oberen Rand, wo wir Begabungen aller Art - ob sportlich, musikalisch oder intellektuell - fördern wollen", ergänzt der Schulleiter. Vielmehr ginge es darum, das Potenzial der Kinder und Jugendlichen zu wecken. "Manche brauchen etwas mehr Input. Aber jeder hat etwas, das er besonders gut kann."

Bei der Neugestaltung des Pausenhofs packen alle mit an

Die Konzentration auf das Individuum kommt bei den Eltern gut an. "Es ist wichtig, dass die Schüler nicht als Masse wahrgenommen werden", sagt Geelke Preschke. Niemand soll zurückgelassen werden - dieses Credo gilt. Die Art und Weise des Umgangs hat sich zusätzlich aufgrund einer weiteren Beobachtung verändert. "Die Pubertät tritt heute früher ein. Da erwarte ich Fingerspitzengefühl und die Fähigkeit, auf die jeweiligen Bedürfnisse einzugehen. Sonst ist man kein guter Pädagoge", sagt Reinhard Redemund.

Ein bisschen Psychologie muss ein Lehrer eben im Repertoire haben. Dies hat auch Indre Schmalfeld festgestellt, die Englisch und Geschichte unterrichtet. "Die Schüler sehen heute schon die fünfte Klasse als großen Umbruch. Man muss sehen: Wann ist ein Schüler auffällig, welcher persönliche Hintergrund spielt eine Rolle, ist es Unter- oder Überforderung?" Ihrer Ansicht nach funktioniert das Miteinander. "Obwohl die Schule so groß ist und einen Hauch von Anonymität hat, ist es hinter den Kulissen ein Verhältnis von gegenseitigem Vertrauen."

Als sich unlängst die Frage stellte, wie die überfällige Renovierung des tristen Pausenhofes finanziert werden könne, wurde entsprechend ein eigenes Projekt auf die Beine gestellt. Mittels eines Sponsorenlaufs Ende September erwirtschafteten die Schüler stolze 32 000 Euro - die Hälfte ging als Spende an die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, die anderen 16 000 Euro sind für die Neugestaltung des Außengeländes vorgesehen.

Gymnasium setzt auf G8 und das Konzept der Offenen Ganztagsschule

In Zukunft dürften Schulen noch stärker daran gemessen werden, wie attraktiv ihr Ambiente speziell außerhalb der Klassenräume ist. Im Rahmen der G8-Struktur, für die sich das Gymnasium Kaltenkirchen 2010 entschied, haben derzeit bereits die Klassenstufen fünf bis acht regelmäßig nachmittags Pflichtfächer und verbringen somit im Schnitt fast schon mehr Zeit im Unterricht als daheim. Hinzu kommt das gemeinsam mit dem Verein Tausendfüßler angebotene Programm als Offene Ganztagsschule.

All dies soll sich nach Wunsch von Reinhard Redemund zusammenfügen zu einer Schule, die von allen Schritt für Schritt gemeinsam weiterentwickelt wird. "Wir sind dabei, uns Gedanken zu machen, wohin wir wollen", sagt er. (abendblatt.de)