Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: Eine, wenn es ihm gut geht und eine, wenn es ihm schlecht geht.

Diesen Satz habe ich bei Kurt Tucholsky gefunden, in seinem "Sudelbuch", in dem er die Schnipsel seiner Geistesblitze und Aphorismen sammelte.

Religion gilt dann bei den Menschen etwas, wenn es ihnen schlecht geht. Sie stellt sozusagen die Zweithose für schlechte Tage dar. Meine Großmutter hat für dieselbe Beobachtung einen anderen Satz gehabt: Not lehrt beten. In meinen Ohren klingt das sympathischer, weil da nämlich der Religion, dem Beten, nicht sofort und unterschwellig Scheinheiligkeit unterstellt wird. Es wird ernst genommen, dass es Hilfe in dunklen Tagen gibt und dass es keine Heuchelei sein muss, sich auf sie zu besinnen.

Meine Großmutter wusste, dass wir Menschen es immer wieder lernen müssen, das Beten und das Hoffen. Sie wusste, dass Religion häufig etwas ist, das sich trotz aller widrigen Umstände bewährt. Dass da kleine Überzeugungsschnipsel, die in guten Tagen tief im Herzen verborgen lagen, sich zu einem Glauben zusammen fügen können. Zu einem lückenhaften Glauben vielleicht, zu einem Glauben, der womöglich immer einmal wieder in Vergessenheit gerät. Aber der eben auch ein Glaube sein kann, der trägt, wo anderes zusammenbricht.

Carolin Paap ist Pastorin der Paul-Gerhardt-Kirche in Norderstedt