Staatsanwalt erhebt schwere Vorwürfe gegen 26 Jahre alten Mann aus Kaltenkirchen. Jetzt soll die Matratze des mutmaßlichen Opfers genauer auf Spermaspuren untersucht werden

Norderstedt/Kaltenkirchen. Das war ein böses Erwachen für Jessica M. am Neujahrsmorgen 2010, besser gesagt am Neujahrsnachmittag. Die 24-Jährige erwachte auf der Matratze im Schlafzimmer ihrer Wohnung in Kaltenkirchen - zu ihrem Entsetzen völlig nackt, außerdem mit Schmuck behängt. Ein Zustand, in dem sie für gewöhnlich nicht ins Bett geht. Die junge Frau hatte Schmerzen am ganzen Körper und großflächige Hämatome an den Knien, den Hüften und den Oberschenkeln.

Als besonders schlimm empfand es Jessica M., dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie sie ins Bett gekommen war, aber ein Gedanke setzte sich sofort fest: "Mir muss jemand etwas angetan haben." Gemeinsam mit ihrer Freundin Mandy M., 24, aus Norderstedt hatte Jessica M. in einer Bar in Kaltenkirchen Silvester gefeiert, auch Jessicas Tante Petra E., 46, war mit von der Partie, verabschiedete sich aber kurz nach Mitternacht, weil es ihr nicht gut ging. Jessica und Mandy feierten weiter, bis es Mandy gegen 6 Uhr plötzlich schlecht ging und sie sich nach Aussage ihrer Freundin kaum noch auf den Beinen halten konnte - und das, obwohl sie lediglich zwei Bier und etwas Wodka getrunken hatte. Drei Bekannte fuhren die beiden jungen Frauen zu Jessicas Wohnung. Beim Verlassen des Autos vor dem Mehrfamilienhaus setzt bei Jessica die Erinnerung aus. Ihre Freundin Mandy berichte, dass einer der Männer, Hasan A., 26, die beiden Frauen bis in Jessicas Wohnung begleitete. Dort setzte er sich erst auf die Couch, dann legte er sich zu Jessica auf die Matratze. Die junge Frau hatte sich erschöpft dort schlafen gelegt, beide waren angezogen.

Die junge Frau war nicht in der Lage, den Mann aus der Wohnung zu werfen

Jessica soll mehrmals zu ihrer Freundin gesagt haben: "Schick ihn weg." Sie wollte nicht, dass Hasan A., den sie seit Jahren aus der Nachbarschaft kannte, bei ihr blieb, war aber anscheinend nicht in der Lage, den jungen Mann aus ihrer Wohnung zu werfen. Mandy M. wurde dann von ihrem Freund Andre B., 21, der in der Wohnung unter Jessica wohnte, abgeholt und ließ Hasan A. mit ihrer Freundin allein. Sie habe geglaubt, Hasan werde gleich von seinen Freunden abgeholt, außerdem dachte sie, es sei in Ordnung, weil die beiden sich ewig kannten, begründet Mandy M. später ihr Verhalten.

Nach Jessicas Aufwachen rief sie die Freundin an. Gemeinsam versuchen die jungen Frauen zu rekonstruieren, was in der Nacht passiert sein könnte: Da Jessica auch Schmerzen im Unterleib und Analbereich verspürt, ist sie davon überzeugt, dass Hasan A. sie vergewaltigt hat. In der Silvesternacht nahm Hasan A. die attraktive zierliche Frau zur Seite und gestand ihr, er sei in sie verliebt, wie sie ihrer Freundin erzählte. Sie habe A. deutlich gemacht, dass sie kein Interesse an ihm habe. Insbesondere, weil der türkischstämmige Mann verheiratet sei. Erst drei Tage später ging Jessica zur Polizei und erstattet Anzeige, wobei sie die Überzeugung äußert, jemand müsse ihr etwas ins Glas getan haben, anders lasse sich der totale "Filmriss" nicht erklären.

Im Prozess vor dem Norderstedter Schöffengericht, wo sich Hasan A. wegen Vergewaltigung verantworten muss, tritt Jessica als Nebenklägerin auf und macht ihre Aussage unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Mehrmals dringt lautes Weinen durch die geschlossenen Türen des Gerichtssaals, für Jessicas Mutter, die draußen wartet, kaum zu ertragen.

Der Angeklagte Hasan A. zieht es vor zu schweigen, nur er kennt die Wahrheit, denn sein Opfer kann sich ebenso wie andere Zeugen hinsichtlich des Geschehens im Schlafzimmer nur auf Vermutungen stützen.

Ein Freund des Angeklagten, Sait C., 24, stand an jenem Silvesterabend am Tresen der Bar. Gegen ihn wurde ermittelt, weil der Verdacht bestand, er habe betäubende Substanzen, sogenannte K.-o.-Tropfen, in Getränke von weiblichen Gästen gemischt. Jessica und ihre Tante bekamen nach eigenen Aussagen Drinks ausgegeben. Beiden Frauen ging es urplötzlich schlecht, obwohl sie wenig getrunken hatten. Auch Petra E. hatte gegen 1 Uhr einen "Filmriss" und musste von ihrem Sohn nach Hause gebracht werden.

Sait C. versucht das mutmaßliche Opfer Jessica als "Schlampe", wie er es in frauenverachtender Weise nennt, hinzustellen. Sie habe häufig wechselnde Sexpartner gehabt und sei hinter dem Angeklagten her gewesen. Der Angeklagte sei in der Silvesternacht zwischendurch eine Weile verschwunden und habe ihm gegenüber nach seiner Rückkehr vom Sex mit Jessica berichtet, es sei dabei etwas härter "zur Sache" gegangen, das sei doch normal, so Sait C. - auch dass man dann blaue Flecken davontrage. Stundenlang werden weitere Zeugen befragt, wobei naturgemäß keiner etwas zum angeblichen Tatgeschehensagen kann.

Betäubungsmittel sind im Urin nach mehreren Tagen nicht nachweisbar

Das Gutachten der Gerichtsmedizinerin hilft auch nicht wirklich weiter: Verletzungen im Intimbereich wurden bei der Nebenklägerin nicht festgestellt. Was nicht bedeutet, dass kein Geschlechtsverkehr stattgefunden hat. Die blauen Flecken können durch alles Mögliche zustande gekommen sein, Betäubungsmittel sind im Urin nach Ablauf mehrerer Tage nicht mehr nachweisbar. Mehrere Zeugen berichteten davon, dass Jessica ganz normal und klar gewirkt hätte bis zu ihrem "Zusammenbruch", der laut Gutachterin durch Schlafmittel, Antidepressiva oder K.-o.-Tropfen, aber auch durch totale Übermüdung hervorgerufen worden sein kann.

Am Ende des langen Verhandlungstages steht für den Staatsanwalt fest, dass Jessica von dem Angeklagten, der in sie verliebt gewesen sei, vergewaltigt wurde: Es sei völlig unerheblich, mit wie vielen Männern sie sonst Verkehr gehabt habe. Alles passe zusammen, wie intensiv die junge Frau am Neujahrstag gebadet und später in der Holstentherme geschwommen habe, nach Aussage ihrer Tante wie eine Besessene, als wolle sie alles abschütteln und vergessen. Auch dass ein Opfer erst Tage nach einem derartigen Vorfall zur Polizei gehe, sei nicht ungewöhnlich. Hasan A. steht wegen einer von ihm begangenen räuberischen Erpressung unter Bewährung. Der Staatsanwalt beantragt eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, für die Verteidigung offensichtlich ein Schock. Eigentlich sollte der Prozess jetzt mit dem Verteidigerplädoyer zuende gehen, aber mit der Aussicht auf eine so hohe Freiheitsstrafe für seinen Mandanten überrascht der Verteidiger alle Beteiligten mit einer Fülle weiterer Beweisanträge, denen das Gericht teilweise stattgibt und damit wieder in die Beweisaufnahme eintritt: Gehört werden soll noch der fünfte in jener Nacht im Auto befindliche junge Mann und ein anderer Zeuge.

Auch die Matratze des mutmaßlichen Opfers soll genauer auf Spermaspuren untersucht werden. Der Prozess wird fortgesetzt.