150 Menschen halten vor dem Rathaus die erste Anti-Atom-Mahnwache und drücken aus, was viele im Stillen fürchten

Norderstedt. Irgendwie fühlte es sich am Montagabend auf dem Norderstedter Rathausmarkt an wie ein Déjà-Vu, wie eine Szene aus den 70er- oder 80er-Jahren, als Menschenketten und Protestmärsche gegen Atomkraft und atomare Rüstung an der Tagesordnung waren. "Atomkraft - Nein danke"-Aufkleber und -fahnen, flackernde Kerzen und überall das gelb eingefasste Warnzeichen für Radioaktivität.

Und auch die etwa über 150 Menschen, die gekommen sind, entsprechen dem, was man seit Jahrzehnten zu solchen Anlässen an Aktivisten gewöhnt ist: Grüne, Linke, Gewerkschafter und Naturschützer. Was die etwa einstündige Mahnwache gegen die Atomkraft zwischen 18 und 19 Uhr vor dem Rathaus fundamental von allen Protesten der vergangenen Jahrzehnte unterscheidet war der gesellschaftliche Kontext, in dem sie geschah. Niemand würde einen Anti-Atom-Demonstranten heute als einen "grünen Spinner", "langhaarigen Fantast" oder "Häkelsockenträger" verunglimpfen. Wenn auch das breite Bürgertum nicht in Masse zum Protest erscheint - die Anti-Atom-Stimmung ist jetzt nahezu Konsens in allen Gesellschaftsschichten. "Fukushima ist überall" heißt es dazu auf einem Banner, das die Linken auf dem Rathausmarkt entrollen.

Der Norderstedter Fraktionsvorsitzende der Linken, Miro Berbig, ist die treibende Kraft der Mahnwache. Er stellt sich am Montag kurz auf den Rand des Brunnens um die Regentrude und begrüßt die Protestierenden: "Ich will gar keine großen Reden halten. Schön, das ihr da seid. Wer will: Da hinten gibt's warmen Kaffee vom Eine-Welt-Laden."

Es ist ein stiller Protest. Die Leute diskutieren in Gruppen. Die Jusos der SPD haben sich in Ganzkörper-Schutzanzüge geworfen, sie tragen Mundschutz und schieben ein knatschgelbes Atommüll-Fass über das Pflaster. Für die Jungsozialisten ist Fukushima das, was für ihre Elterngeneration Tschernobyl war. "Meine Eltern haben mir von damals erzählt. Wie sie alles abduschen mussten und so", sagt Denise Loeck, 16. Irgendwie sei sie immer gegen Atomenergie gewesen. "Aber jetzt, mit Fukushima, wird das Ganze erst richtig begreifbar." Lisa Pöpplau, 15, sagt, sie habe bei den Castor-Transporten begriffen, welche Gefahr von der Atomkraft ausgeht: "Das Zeug strahlt noch Millionen Jahre, wenn wir alle längst Staub sind."

Gisa Casties, 69, aus Henstedt-Ulzburg, hat ein selbst entworfenes Protestplakat vor der Brust. Atomraketen, AKWs und Munchs Schrei verteilen sich auf dem Zeichen für Radioaktivität. "Es ist alles ein Kreislauf", sagt Casties. Sie war schon immer gegen die Atomenergie, seit 30 Jahren hält sie Mahnwachen, reiht sich in Menschenketten ein und protestiert mit Gleichgesinnten auf der Straße. "Brokdorf, Wackersdorf, ich war dabei", sagt die 69-Jährige. Für sie gibt es kein Nachlassen in der Sache. "Tschernobyl hat den Leuten noch nicht gereicht. Klar: Die Haare wurden einem nicht grün, nur die Pilze konnte man einen Herbst lang nicht essen - aber wer isst schon Pilze." Atomkraft sei gefährlich, dumm und viel zu teuer, wenn man die Kosten für die Entsorgung nicht über den Steuerzahler sozialisieren, sondern komplett auf die AKW-Betreiber umlegen würde. "Ich halte es wie die amerikanischen Natives, die jede ihrer Entscheidungen auf ihre Auswirkungen für die nächsten sieben Generationen prüfen", sagt Casties.

"Atomkraft tötet. Kinder haften für ihre Eltern." Das Schild hat sich Patrick Grabowski, 21, unter die Hutschnur seines Stetsons geklemmt. Ein martialischer Totenkopf prangt dazu auf seinem T-Shirt. "Ich stehe heute hier, weil ich nicht länger meine Gesundheit für die wirtschaftlichen Interessen der gierigen Atom-Lobby aufs Spiel setzen möchte", sagt er und pocht darauf, wie ungerecht gegenüber kommenden Generationen die Laufzeitverlängerung der altgedienten deutschen Atommeiler ist. Grabowski: "Es ist doch ein Mythos, dass in Deutschland ohne Atom die Lichter ausgehen. Norwegen und Österreich machen es vor."

Kathrin, 41, und Matthias Weinreich, 42, aus Kisdorf sind mit Sohn Robin, 8, auf den Rathausmarkt gekommen. Robin trägt noch die Schärpe von der letzten Anti-Atom-Menschenkette. "Wir haben gelernt umzudenken, seit wir Robin haben", sagt Kathrin Weinreich. Gegen Atomkraft seien sie und ihr Mann schon lange. Doch aus ihren Steckdosen und aus dem Gas-Hahn kommen erst seit ein paar Jahren Öko-Strom beziehungsweise Öko-Gas. "Es ist gar nicht so viel teurer", sagt Matthias Weinreich. Robin hat das Thema in seiner Grundschulklasse erklärt bekommen: "Viele meiner Freunde haben voll Angst vor Atom. Gegen einen Tsunami oder ein Erdbeben kann man nix machen. Aber die ganzen Atomkraftwerke, die können wir Menschen doch einfach abschalten, oder?"

Die Mahnwachen werden jeden Montag von 18 bis 19 Uhr bis zum 18. April fortgeführt.