Landärztin Angelika Hinrichsen geht nach 35 Jahren in den Ruhestand. Sie will in Zukunft mehr Zeit für ihr Hobby, das Fotografieren, investieren.

Ellerau. Auf die Frage, wann sie ihre Praxis eröffnet hat, kommt die Antwort ohne jedes Zögern: "Das war am 2. Januar 1976, so einen Tag vergisst man nicht", sagt Angelika Hinrichsen. Schon deswegen nicht, weil sie damals die Zweifel nicht vertreiben konnte. "Was machen wir, wenn niemand kommt?" Sie wusste von einem Kollegen, der nach drei Quartalen - Ärzte denken eben in Vierteljahresabschnitten - aufgegeben hatte. Doch die Zweifel erwiesen sich als unberechtigt. 27 Patienten standen vor der Tür, als die junge Ärztin ihre Arbeit in Ellerau aufnahm. Praxisstart war in den Räumen am Berliner Damm. Dort hatte die Ärztin zusammen mit ihrem Mann, der ebenfalls Arzt war und 1988 gestorben ist, den Schritt in die berufliche Selbstständigkeit gewagt.

Das Ärztepaar hatte genug vom Klinikbetrieb, wollte sein eigener Herr sein. Mehrere Angebote der Kassenärztlichen Vereinigung hatten sie abgelehnt. "In Ellerau hat es uns dann gefallen", sagt Angelika Hinrichsen, die in der Gemeinde sesshaft geworden ist und nun nach 35 Jahren aufhört. Fast 66 ist sie und findet, dass sie genug gearbeitet hat. Viele Jahre unter Volllast, mit zwei Töchtern, die nach der Arbeit die Mutter forderten, haben Kraft gekostet. "Und es gibt noch so Vieles, was gern machen würde, so lange ich noch fit bin", sagt Angelika Hinrichsen, der Verschleiß nicht anzumerken ist.

Sie wirkt vital, offen, neugierig, hat den Kopf voller Pläne für die Freizeit, die am 10. Februar beginnt. Die große Fototasche auf dem Boden des kuscheligen Wohnzimmers verrät schon ein Hobby. "Ich fotografiere leidenschaftlich gern und will mich tiefer in die moderne Fotobearbeitung einfuchsen", sagt Angelika Hinrichsen.

Doch erst mal ist es Zeit für den Blick zurück. Schnell bauten die Hinrichsens ein Haus mit Praxis im Souterrain und Wohnräumen darüber. Noch immer wohnt und arbeitet die Allgemeinmedizinerin im roten Backsteinbau an der Ecke Berliner Damm/Im Wiesengrund, inzwischen mit zwei Kollegen. Schon früh ergänzte Dr. Hans-Georg Merkel das medizinische Angebot internistisch, später kam Hausärztin Carola Methner hinzu.

Nun hatte Ellerau 1976 zwar schon rund 3000 Einwohner und war kein Dorf mehr. Dennoch sah sich Angelika Hinrichsen als Landärztin. "Es gab noch deutlich mehr Bauern als heute, auch der dörfliche Charakter war viel ausgeprägter", sagt eine Frau, die in Hamburg studiert und städtisches Leben kennen gelernt hatte. Dennoch hat sie keine Schwierigkeiten, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, erfüllte sie doch eine wichtige Voraussetzung: "Ich verstehe Platt, und mein Mann konnte es auch sprechen", erinnert sich die Ärztin. Auch die direkte Art der beiden kam bei denen an, die lieber zu wenige als zu viele Worte verlieren.

Damals gehörten Hausbesuche zum Arbeitsalltag. Alle 14 Tage sahen sich die Hinrichsens die älteren Ellerauer an, diejenigen, die nicht mehr in die Praxis kommen konnten. Die Ärzte haben bei Oma Blutdruck gemessen, die Lunge abgehört und gefragt, ob alles in Ordnung ist. "Und dann ging Oma in den Stall und holte ein paar frische Eier für uns", sagt die Rentnerin in spe.

Privatleben gab es nicht. Ein Arzt ist immer im Dienst war die Vorstellung, die sich offenbar vor 30 Jahren bei den Patienten eingebrannt hatte und durch rechtliche Regelungen genährt wurde. Es gab noch die Residenzpflicht, wonach der Arzt in dem Ort zu wohnen hatte, in dem er praktizierte, und die Präsenzpflicht. Mediziner hatten sieben Tage die Woche und 24 Stunden am Tag einsatzbereit zu sein, von umschichtigem Notdienst hatte noch niemand gehört.

"So passierte es eben, dass ich am Sonntag hochschwanger auf der Terrasse stand und meinen Bauch rieb, als eine junge Mutter auftauchte und mich um Hilfe bat, weil ihr Kind so stark hustete. Die Frau hatte an der Praxistür geklingelt und ging dann einfach ums Haus, als niemand öffnete", sagt die Medizinerin. Kein Verständnis hingegen hatte sie für den Mann, der von ihr an einem Sonnabendabend eine Krankschreibung verlangte und völlig ignorierte, dass die Medizinerin im Abendkleid vor ihm stand und gerade auf dem Sprung war. "Da bin ich dann auch mal laut geworden", sagt sie. Es gab noch keine Handys, doch überall in der Wohnung standen Telefone, selbst auf dem Klo. Die Hinrichsens hatten den Tag so organisiert, dass immer jemand die Anrufe entgegennehmen konnte.

Heute ist vieles anders und nur weniges besser, bilanziert die Ellerauerin. Hausbesuche blieben auf Notfälle beschränkt. Der Aufwand lohne sich nicht mehr, zudem sei die Diagnostik durch die fortschreitende Technologie deutlich differenzierter und komplizierter geworden. Die Computer-Tomographie habe noch in den Kinderschuhen gesteckt, als Angelika Hinrichsen ihre Arbeit in Ellerau aufnahm. "Die klassische hausärztliche Tätigkeit, wie wir sie noch ausgeübt haben, tritt immer mehr in den Hintergrund. Der Hausarzt wird zunehmend zum Weichensteller, der die erste Untersuchung vornimmt und dann an den Facharzt überweist", sagt die scheidende Medizinerin, die aus heutiger Sicht keine Praxis mehr eröffnen würde. Die ständigen Neuerungen und Änderungen in der Gesundheitspolitik verunsicherten und frustrierten viele Mediziner. Immer weniger junge Ärzte wollten sich offenbar in die berufliche Selbstständigkeit begeben. Sie wisse von Kollegen aus den Nachbarorten, die seit Jahren vergeblich Nachfolger suchten.

Haben sich die Patienten geändert? "Das Anspruchsdenken ist größer geworden. Es gibt Patienten, die sich den Arzt suchen, mit dem sie die von ihnen für sinnvoll erachtete Therapie durchziehen", sagt Angelika Hinrichsen. Doch die überwiegende Mehrzahl ihrer Patienten sei einfach nett, damals wie heute. Und auch der unfreiwillige branchentypische Humor habe überlebt. So wie die Frage einer Seniorin, die wissen wollte, was denn ihre "Artillerieverkalkung" macht. Gemeint war natürlich die Arterienverkalkung.

"Es war eine tolle Zeit. Ich habe viele nette Menschen getroffen und meine besten Freundinnen als Patientinnen kennengelernt", sagt Angelika Hinrichsen, die mit einem lachenden und einem weinenden Auge in den Ruhestand geht. Und einen Nachfolger gefunden hat: Dr. Johann Gromer ist ebenfalls Allgemeinmediziner. Doch bevor er übernimmt, wird sich Angelika Hinrichsen am Dienstag, 15. Februar, mit einem Glas Sekt von ihren Patienten verabschieden. "Ich finde, das gehört sich einfach. Schließlich betreue ich einige Familien in der vierten Generation, eine sogar schon in der fünften", sagt die Ärztin.