Der EM-Spielführer von Matthias Popien

Maos "langer Marsch" ist Gegenstand unzähliger Beschreibungen. Der "lange Pfosten" ist es nicht. Dabei ist gerade die Tatsache, dass es im Fußball einen langen und einen kurzen Pfosten gibt, äußerst erklärungsbedürftig. Denn natürlich sind die beiden Pfosten des Tores gleich lang. Anderenfalls würde die Torlatte ja schräg in den Himmel ragen.

Der lange Posten ist in der Fußballersprache jener der beiden Pfosten, der vom ballführenden Spieler weiter entfernt ist. Exakt dieses Phänomen hat Michael Ende in seinem Kinderbuch "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" beschrieben. Dort taucht Herr Tur Tur auf, ein Scheinriese, der wächst, wenn wir uns von ihm entfernen, und der schrumpft, wenn wir uns nähern. Der lange Pfosten ist ein Scheinriese. Er kann zum kurzen Pfosten werden, wenn der Spieler näherkommt. Nur für den Elfmeterschützen, der mittig vor dem Tor steht, sind beide Pfosten gleich lang.

Es ist durchaus sympathisch, dass sich Fußballer von einem Kinderbuch inspirieren lassen. Zugleich weckt es aber auch Zweifel an ihren Rezeptionsfähigkeiten. Denn die anderen, nicht Fußball spielenden oder liebenden Menschen sehen die Wirklichkeit ganz anders. Für sie ist der nahe Pfosten lang, der ferne Pfosten aber kurz. Je weiter sie von einem Gegenstand weg sind, desto kleiner wirkt er für sie. Auch die Europameisterschaft wird ihnen bald entschwinden. Sie wird Tag für Tag kleiner und unbedeutender werden.

Bei den deutschen Fußballfans ist das anders. Falls das Löw-Team gewinnt, wird die EM wachsen und wachsen. Am Ende, nach zehn oder 20 Jahren, ist ein verdammt langer Pfosten entstanden: die Fußballlegende, der Super-Tur-Tur der Kicker.

Praxistipp: Ihr Mann versucht, einen Faden ins Nadelöhr zu praktizieren. Sagen Sie: "Immer links am langen Pfosten vorbei."

An jedem EM-Spieltag erklären wir Ihnen die eigenwilligen Regeln der Fußballsprache und sagen, wie Sie das Erlernte anwenden können