Der Norderstedter wird morgen 90. Er ist fit, geht gleich mit zwei Frauen essen und hat erst vor einem Jahr seinen Führerschein abgegeben.

Norderstedt. Er trage Größe 26 oder 27, aber nicht 28. "Deswegen bitte ich Sie, mir das Shirt in der richtigen Größe zu schicken, dann sende ich das andere zurück", sagt Helmut Albers. Routiniert wickelt er das Telefonat ab, das kaufmännische Können, in mehr als 40 Berufsjahren erworben, erlaubt kaum Widerspruch. "Wenn die wüssten, dass ich morgen 90 werde, würden die mich ganz anders behandeln", sagt der Norderstedter.

Noch steht er mit beiden Füßen fest im Alltag, feiert mit gut 30 Gästen gleich nebenan bei Costa an der Ochsenzoller Straße. Beim Griechen um die Ecke ist er Stammgast, jeden zweiten Donnerstagabend und alle 14 Tage sonntags mittags isst er dort, nicht allein, sondern begleitet von zwei Frauen ähnlichen Alters. "Ich war mit den Männern befreundet, aber die sind inzwischen verstorben", sagt der Jubilar, der zu seinem Geburtstag auf sein Leben zurückblickt, die lange Strecke, die er schon absolviert und die Zielgerade, die er vor Augen hat. Wir sind mit Helmut Albers unterwegs in einer Biografie, wie sie typisch ist für Menschen seiner Generation und doch zugleich eine einzigartige und ganz persönliche Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart.

Der Senior hat Glück. Während viele Gleichaltrige ihre Mobilität verlieren, betreut werden müssen, sich zurückziehen in eine deprimierende Isolation, ist er noch fit, schafft die steile und schmale Treppe ins Schlafzimmer ohne Hilfe. Hier oben, im ersten Stock des Rotklinker-Reihenhauses, ist die Vergangenheit versammelt. Die Einbauschränke nach Maß, "aus Echtholz", und das "grüne" Zimmer, in dem er und seine Frau sich mit Freunden zum Klönen getroffen haben, haben die Jahre unangetastet überdauert. Der Flachbildschirm, die Tageszeitung - die Gegenwart ist im Wohnzimmer zu Hause. Albers liest jeden Tag das Hamburger Abendblatt, verfolgt die Nachrichten im TV, ereifert sich bei Talk-Shows und mag die Illner, die andere, wie heißt sie noch, überhaupt nicht. Der Name fällt ihm gerade nicht ein, eine der wenigen Lücken im Gedächtnis, das sonst ausgezeichnet funktioniert.

+++Das Glückszentrum wird aktiviert+++

Dafür bringt er einen anderen Namen ins Spiel: Maja Herzberg, die zusammen mit Malte Andresen die Frühaufsteher bei der NDR1-Welle-Nord mit "Guten Morgen Schleswig-Holstein" in den Tag schickt, rangiert in der Beliebtheitsskala von Albers ganz oben. Punkt fünf Uhr legt das Duo los, und der Garstedter ist ganz Ohr. "Lange schlafen kann ich sowieso nicht", sagt der Rentner. Noch im Bett wartet er auf die Stimme der Moderatorin: "Sie spricht das Wort Hirsch so schön aus", sagt Albers, der ihr das unbedingt sagen musste. Hat er doch zwei Eigenschaften, die ihm schon im Gesellenzeugnis attestiert wurden: Humor und Hartnäckigkeit.

Der Stammhörer schaffte es tatsächlich in die Sendung. Andresen schickte das Lob aus Norderstedt über den Äther, Maja Herzberg verkündete die Verkehrsmeldungen und brachte so oft wie möglich das Wort "Hirsch" unter, auch wenn es nicht wirklich passte. Auch die beiden haben Humor. Sender und Hörer verbindet eine lange Freundschaft, die vor Jahren mit einer Suche begann und in Albers Jugendzeit führt.

Mit 16 hatte er sich verliebt, in Ruth, Lehrling in Vaters Schuhgeschäft und auch 16. Doch der Schuhhändler verbot das Techtelmechtel, erfolglos. Der findige Sohn setzte sich mittags ans Klavier in der Wohnung über dem Laden und spielte "Ich träum beim ersten Kuss schon von dem zweiten Kuss". Das war das Signal für Ruth, den Laden zur Mittagspause zu verlassen. Die beiden turtelten 20 Minuten zur S-Bahn-Station Hasselbrook, Albers dann sofort, seine Freundin später allein zurück.

Der Zweite Weltkrieg riss die beiden auseinander. Als seine Jugendliebe nach dem Krieg ihre Papiere abholen wollte, trafen sie sich wieder. Albers, der bei seinem Bruder in Garstedt untergekommen war, lud Ruth zum Rendezvous. "Beim Spaziergang mitten im Rantzauer Forst habe ich sie gefragt, ob sie mich heiraten will", erinnert sich der Witwer. Am 27. Januar 1948 schlossen die beiden in der Hamburger Petri-Kirche den Bund, der auch tatsächlich ein Leben lang hielt. Noch im selben Jahr kam Tochter Brigitte zur Welt. "50 Jahre bis zur goldenen Hochzeit waren wir sehr glücklich", sagt Albers. Seine Frau erkrankte an Parkinson, starb 2002. Der Tod ging ihm sehr nahe. "Aber ich bin wieder auf die Beine gekommen, meinem Schutzengel sei Dank", sagt Albers.

Den kleinen Messingengel trägt er immer bei sich. Er setzt auf die Schutzkraft der Figur, die ihm Alexandra Hector geschenkt hat - die Pastorin der nahen Christuskirche meinte bei einem ihrer Hausbesuche, die Riesenportion Glück, der Albers gleich mehrfach sein Leben verdankt, brauche ein handfestes Symbol. Der Glücksbringer in der Tasche soll den Garstedter auch künftig vor Schaden bewahren.

Dreimal innerhalb weniger Tage hätte er fast sein Leben verloren. Bei der Kriegsmarine erkrankte er an Diphtherie, sollte sich in der Heimat erholen, an der Süderstraße 204 in Hamburg, wo seine Eltern ein Schuhgeschäft betrieben, direkt darüber wohnte die Familie. Am 27. Juli 1943 musste er zurück nach Triest, um auf einem anderen Schiff anzuheuern. In der Nacht zum 28. Juli startete die Royal Air Force den zweiten Großangriff der Operation "Gomorrha". Etwa 30 000 Menschen verloren bei diesem Angriff ihr Leben - auch die Eltern von Helmut Albers. Ihn selbst bewahrte nur die Abreise nach Italien vor dem Tod.

Als der Marinesoldat in Triest ankam, meinte es das Schicksal zum zweiten Mal gut mit ihm: Sein Schiff war schon weg, Albers machte sich auf nach Piräus, um auf einem anderen Frachter Dienst zu leisten. "Und da wurde mir mitgeteilt, dass mein ursprüngliches Schiff von einem englischen U-Boot versenkt worden war, niemand hatte überlebt", sagt der Garstedter.

Als er vom Tod seiner Eltern erfuhr, wurde ihm die Grausamkeit des Krieges bewusst. Er beschloss, den Kriegsdienst zu verweigern, obwohl er wusste, dass diese Entscheidung eigentlich Tod durch Erschießen bedeutet. Aber das war ihm egal. Als er beim Kommandeur zum Rapport bestellt wurde, sah Albers seine letzten Stunden gekommen - und wieder griff der Schutzengel ein. "Der Kommandeur war Hamburger und hatte bei den Angriffen der Engländer ebenfalls alles verloren. Statt des Schießbefehls gab der Offizier Order, zum Bombenurlaub in der Heimat aufzubrechen", sagt Albers.

Die Erinnerung ist präsent, die Fotoalben sind gut gepflegt, exakt gesetzte Buchstaben kommentieren die Bilder. Ordnung muss sein, war schon beruflich nötig, um in der Welt der Schuhe den Überblick zu behalten. Bei Friedrich Schüttfort hat er Einzelhandelskaufmann gelernt, ein Name, der damals in Bergedorf und Umgebung ähnlich bekannt war wie Görtz oder Schuh Kay. Nach dem Krieg heuerte Albers bei Görtz an, holte auch seine Frau, Tochter und seinen Schwager ins Unternehmen, baute das Lager in Norderstedt auf, hatte immer ein gutes Verhältnis zur Unternehmerfamilie. Die Reisen nach Dänemark, die Feiern, das Angeln samt Rekordhecht von 25 Pfund und 1,10 Metern Länge - langweilig waren die Jahre nicht. "Wir hatten eine tolle Nachbarschaft, haben einfach ein paar Sonnenschirme und Bänke im Garten aufgestellt, jeder hat was mitgebracht, und dann ging es rund", sagt der letzte Überlebende der einst so feierfreudigen Gemeinschaft von der Kirchenstraße.

Und doch fehlte der Erinnerung ein wichtiges Puzzleteil: die Liebesmelodie, die die heimlichen Treffen aus den Anfangstagen einleitete. Albers bat den NDR um Hilfe, der Sender erfüllte den Wunsch und schickte ihm eine CD mit dem Titel, den damals das Tanzorchester Adelbert Lutter eingespielt hatte. Albers hielt Kontakt, schickte ein Urlaubsfoto aus Dänemark, auf dem das Duschhandtuch der Welle Nord zu sehen war - und inspirierte das Team zur Mitmachaktion "Schicken Sie uns Ihr Foto mit unserem Duschhandtuch".

Keck ist der Jubilar noch immer, wenn der Mund zum verschmitzten Lächeln ansetzt, weiß man: Er hat wieder einen im Sinn. "Als die Stadt gefragt hat, wer zum 90. kommen soll, habe ich natürlich nach dem Oberbürgermeister verlangt", sagt Albers. "Und den hätte ich auch bekommen, wenn er nicht in Urlaub wäre. Da können sie sich drauf verlassen." Und eitel ist der Mann, der noch immer regelmäßig zum Einkaufen ins kleine Geschäftszentrum an der Ochsenzoller Straße geht. Bis vor einem Jahr fuhr er Auto, bis er der Bitte seiner Tochter folgte und den Wagen verkaufte. "Dann müsst ihr mich aber zum Friseur fahren", lautete seine Bedingung. Schließlich müssen die wenigen weißen Haare ordentlich liegen, will er doch nach wie vor eine gute Figur machen.

Einmal pro Woche kommt eine Bekannte, die die Wohnung putzt, die Wäsche wäscht und aufhängt und gerade Hornveilchen ins Gartenbeet gepflanzt hat. Mittag gibt es von "Essen auf Rädern", abends zwei Scheiben Schwarzbrot, belegt mit Krabben oder Käse.

Was ist geblieben? Die Erinnerung an eine "tolle Jugend" und die Liebe zum Wasser. Der Senior sammelt Schiffsmodelle, hat Feuerschiffe und Fischkutter auf der Fensterbank aufgereiht und kann problemlos den Unterschied zwischen den Schwesterschiffen Cap Arkona und Cap Polonio erklären. Die Freunde werden weniger, die Kontakte könnten gern mehr sein. Dennoch: "Ich bin zufrieden und glücklich, weil mir der Herrgott geistige und körperliche Frische geschenkt hat." Und jetzt steigt das Glücksgefühl, seine Enkelin Katharina heiratet nach einer schweren Zeit ihren Partner Boris. Martin Lorenz, Pastor der Norderstedter Emmaus-Kirchengemeinde, wird das Paar am 16. Juli in Nienstedten trauen. "Ich hoffe, dass ich diesen Höhepunkt noch erleben darf", sagt Albers.