Historiker legt erste wissenschaftliche Arbeit über das “Sterbelager“ in Kaltenkirchen vor. Eines der 446 Schicksale: Stepan Smirnow.

Die Wangenknochen stehen hervor, der Blick geht ins Leere. Der kahl rasierte Kopf ragt aus einem viel zu großen Mantel hervor. "Staatsangehörigkeit: Russe, Beruf: Bauer" steht auf dem vergilbten Karteiblatt geschrieben, das deutsche Soldaten über Stepan Smirnow angefertigt haben. Am 6. Oktober 1941 kam er als Kriegsgefangener in einem Lager in Lübeck an, drei Monate später wurde der damals 21 Jahre alte Soldat der Roten Armee nach Heidkaten bei Kaltenkirchen verlegt. Der Tod in den Lagern war so alltäglich, dass die Wehrmacht Stempel mit der Aufschrift "Verstorben in" anfertigen ließ. Auf der freien Linie daneben hat ein deutscher Soldat "Heidkaten" auf Smirnows Karte geschrieben.

"Untermenschen" mit bürokratischer Präzision erfasst

Smirnow Schicksal ist eines von 446, mit denen sich der Historiker Thomas Tschirner beschäftigt hat. In seiner Examensarbeit für die Kieler Universität hat der 27-Jährige die Karteikarten der sowjetischen Soldaten ausgewertet, die in deutscher Kriegsgefangenschaft in Heidkaten gestorben sind. Er hielt in seinen Händen die Papiere, die mit bürokratischer Präzision Angaben über Männer enthalten, die in der Regel eine Überlebenschance von wenigen Monaten hatten, wenn sie als "Untermenschen" in die Maschinerie des Nazi-Terrors geraten waren.

Tschirners Untersuchung ist die erste wissenschaftliche Arbeit, die über die Lager und andere Einrichtungen auf dem Gelände des ehemaligen Flugplatzes Kaltenkirchen verfasst worden ist. "Diese Untersuchung ist die erste, die Quellen auswertet, die aus der Zeit stammen", sagt Tschirner. Autoren, die sich bislang mit der Geschichte des riesigen Areals am westlichen Stadtrand Kaltenkirchens beschäftigt haben, stützen sich weitgehend auf die Aussagen von Zeitzeugen, jedoch selten auf historische Quellen.

+++ "Klitze-kleiner Fisch" +++

Jahre vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte Herrmann Göring die Luftkreiskommandos angewiesen, nach neuen Flächen für Flugplätze zu suchen. 1938 begannen in Kaltenkirchen die Bauarbeiten für den Flugplatz zwischen der Reichsstraße 4 (heute Bundesstraße 4) im Westen und einem Bahnanschluss der AKN im Osten. Bereits zwei Monate vor dem Angriff auf die Sowjetunion eröffnete die Wehrmacht direkt an der Reichsstraße ein "Erweitertes Krankenrevier", das zu den Mannschaftsstamm- und Straflager in Schleswig (Stalag XA) für Kriegsgefangene gehörte. Der Volksmund sprach stets vom Russenlager.

Die ersten Autoren wie der renommierte Lokalhistoriker Gerhard Hoch verwendeten den Begriff "Sterbelager". Hoch hatte in den 70er-Jahren die Geschichte der Lager in Kaltenkirchen erforscht und gegen den Widerstand vieler Kaltenkirchener darüber publiziert. "Nestbeschmutzer" war damals noch der harmloseste Vorwurf gegen den engagierten Autor aus Alveslohe. Tschirner schreibt in seinem Vorwort: "Herrn Hochs jahrzehntelange Forschung und seine Briefwechsel in Bezug auf sowjetische Kriegsgefangene in Heidkaten sind in besonderem Maße zu würdigen."

Nach seinen Untersuchungen geht Tschirner jedoch davon aus, dass das "Erweiterte Krankenrevier" nicht als Sterbelager konzipiert wurde. Aus dem Material, das er ausgewertet hat, geht hervor, dass manche Gefangene als genesen entlassen wurden oder mehrfach in Heidkaten eingewiesen wurden. "Das wäre nicht geschehen, wenn die Menschen dort hätten sterben sollen", sagt der junge Wissenschaftler, der für eine differenzierte Betrachtung plädiert.

Die Gefangenen mussten Zwangsarbeit auf dem Flugplatz und anderen Einsatzorten leisten. Die meisten wie der Bauer Stepan Smirnow dürften bis zur Erschöpfung mit Schaufel und Schubkarre geschuftet haben.

Das Reich setzte außerdem auf Spezialisten aus der Sowjetunion. Tschirner entdeckte die Karte eines Rotarmisten, der als Flugzeugmechaniker ausgebildet worden war und zur Zwangsarbeit in vielen Orten gezwungen wurde, bis er erkrankt nach Heidkaten kam. Tschirner: "Auf einigen Karten stand explizit ,Spezialist'."

Die Männer, die ihn von den Karten angeblickt haben, sind tot

Tschirners Arbeit lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Wehrmacht die Sowjetsoldaten nicht gezielt nach Heidkaten brachte, um sie dort dem Tod zu überlassen. Gleichzeitig nahm sie jedoch in Kauf, dass die meisten Gefangenen die Lagerbedingungen nicht überlebten. "Die Verhältnisse waren katastrophal", sagt Tschirner. "Einige Personen sind nach zwei oder drei Tagen in Heidkaten gestorben."

Bis zum Jahr 1942, als der Arbeitskräftebedarf weiter wuchs, wurden den Männern Tagesrationen von 300 bis 700 Kalorien zugeteilt. In einigen Lagern aßen die Menschen die Rinde von den Bäumen. Sanitäre Anlagen fehlten, die Lager waren extrem überbelegt. "Auf den Karten stand nicht, dass die Menschen an Fleckfieber und Typhus gestorben sind", sagt Tschirner. "Aber das ist eine Tatsache."

Die Personalkarten, die der Historiker ausgewertet hat, stammen aus dem Bestand der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, die einen Teil des Materials für Forschungszwecke aus einem russischen Archiv in Podolsk bei Moskau erhalten hat. "Die Unterlagen über Heidkaten sind nicht vollständig", sagt Tschirner, der zum Beispiel die Soldaten außer acht gelassen hat, die Heidkaten lebend verlassen haben. Die Männer, die ihn von den Karteikarten angeblickt haben, sind tot.

Auch die Angaben auf den Karten weisen immer wieder Lücken auf. Daten zum Todestag, zur Krankheit oder zum Beruf waren der Wehrmacht nicht wichtig genug, um sie auf jeder Karte zu vermerken. Tschirner erinnert sich an einen Gefangenen, der einen großen Verband über der Nase trug, jedoch den Vermerk "gesund" trug.

Die Arbeit über das Grauen in Heidkaten hat den 27-Jährigen mental belastet. Um Phasen für die eigene Regeneration zu schaffen, entschied er bereits in der Anfangsphase seiner Recherchen, möglichst nur bis 18 Uhr zu arbeiten. "Ich brauchte täglich eine Auszeit", sagt Tschirner. "Ich musste viel darüber reden, was ich gelesen hatte - mit meiner Freundin und anderen Menschen."

Er werde sich auch künftig mit dem Flugplatz Kaltenkirchen und den Lagern wissenschaftlich beschäftigen, kündigt der gebürtige Pinneberger Tschirner an. Sein Betreuer am Historischen Seminar der Kieler Universität, Professor Karl-Heinrich Pohl, hat seine Examensarbeit mit der Bestnote 1 bewertet.

Lesen Sie morgen, welche Bereiche des Flugplatzes unter Denkmalschutz gestellt werden und wie der Trägerverein der KZ-Gedenkstätte einen Geschichtslehrpfad einrichten will.