Ob Christian Wulff noch eine Zukunft als Bundespräsident hat, darüber gehen die Ansichten in Norderstedt auseinander.

Norderstedt. Kreditaffäre, Vorteilsnahme, Maulkorb für Journalisten. Die Affäre um Bundespräsident Christian Wulff nimmt immer krassere Formen an. Erst am 30. Juni 2010 wählte die Bundesversammlung den damaligen Ministerpräsidenten von Niedersachsen nach dem dramatischen Abgang Horst Köhlers zum zehnten Bundespräsidenten. Muss Wulff zurücktreten? Wir fragten Norderstedter Bürger und Politiker.

"Christian Wulff hat sehr integer gewirkt, und sein Verhalten ist für mich eine große Enttäuschung", sagt Inge Goldhagen. Die 81-Jährige, die als Krankenschwester gearbeitet hat, stuft einen Rücktritt Wulffs als "zweischneidiges Schwert" ein: "Menschlich betrachtet sucht jeder seinen Vorteil, auch ein Präsident." Außerdem gebe ihr zu denken, dass Wulff sein Gehalt nach einem Rücktritt weiter beziehen würde. "Er ist noch so jung, das Gehalt sollte nicht bis zum Lebensende, sondern nur für die geleistete Amtszeit anteilmäßig gezahlt werden." Als eventuellen Nachfolger wünscht Inge Goldhagen sich Joachim Gauck, Wulffs Konkurrent bei den Präsidentenwahlen im Juni 2010, oder seinen Vorgänger Horst Köhler.

"Er muss sofort zurücktreten", fordert die Norderstedterin Vanessa Busse. "Er hat Vorteile genutzt, die normalen Bürgern nicht offen stehen, und das geht nicht", sagt die angehende Lehrerin. Für sie war schon die Art seiner Wahl fragwürdig. Auch die 26-Jährige fordert, dass Wulff bei einem Rücktritt nicht seine vollen Bezüge erhalten soll, sondern nur einen Anteil.

Die Bezüge sind für Uwe Hilker der Grund, nicht den Rücktritt Wulffs zu fordern. "Außerdem wäre es innerhalb kurzer Zeit der zweite deutsche Bundespräsident, der zurücktritt, das schadet dem Ansehen", sagt der 76-Jährige aus Norderstedt: "Der Anruf bei der ,Bild'-Zeitung zeigt, dass Wulff keine Bodenhaftung mehr hat und nicht mehr weiß, was anständig ist."

Fassungslos reagiert auch Britta Bayer, 26, Floristin: "Wenn er zurücktritt, hätten wir noch einen Ex-Präsidenten, der Steuergeld als Gehalt bezieht, aber dafür nichts mehr tut." Deshalb solle Wulff sich sofort entschuldigen und seine Arbeit zukünftig gewissenhaft ausführen. Sollte der Präsident zurücktreten, empfiehlt Bayer ironisch, doch Karl-Theodor zu Guttenberg als seinen Nachfolger einzusetzen.

Nicht alle machen Wulff Vorwürfe

Doch es gibt auch Stimmen, die zu weniger Aufgeregtheit raten. Marlon Höltmann, 28, etwa, der dem Staatsoberhaupt keine Vorwürfe macht. "Christian Wulff hat nichts Illegales gemacht. Er hat sich von Bekannten Geld geliehen, das habe ich auch schon gemacht." Der gelernte Tontechniker und Produzent von Rap-Musik unter dem Alias "Tyron Clou" stimmt nicht ein in den Kanon von Rücktrittsforderungen. "Das ist eine private Sache, das geht uns nichts an."

Lokführer Andreas Wibbe, 42, hat sich beinahe schon damit abgefunden, dass Deutschland in der nächsten Zeit einen neuen Präsidenten bekommt. "Er wird wohl die Konsequenzen ziehen müssen", sagt der Norderstedter. Gleichwohl ist er skeptisch, ob es einen Alternativkandidaten mit weißer Weste gibt. "Irgendwas werden die Leute immer finden. Die Angriffsfläche in diesem Amt ist sehr groß."

"Wulff hat seine Reputation spätestens mit seinem Anruf bei der ,Bild'-Zeitung und mit seiner Salami-Taktik verloren", sagt Jürgen Lange, Fraktionschef der Norderstedter SPD. Er wisse nicht, wie sich der Präsident noch im Amt halten könne. In kurzer Zeit hätten sich zwei Präsidenten durch Fehlleistungen diskreditiert, das schade dem Amt und dem Land.

"Wer sich in ein öffentliches Amt begibt, muss sich darüber klar sein, dass er ein Vorbild ist und unter besonderer Beobachtung steht", sagt Günther Nicolai, Fraktionschef der Norderstedter CDU. Wulff müsse jetzt an die Würde des Amtes denken und seine persönliche Befindlichkeit zurückstellen. Je mehr Verfehlungen ans Licht kommen, desto stärker mache sich Politikverdrossenheit bei den Wählern breit.

Maren Plaschnick, Fraktionschefin der GALiN, findet, dass sich jetzt offenbare, was sie schon bei der Wahl von Wulff kritisch gesehen habe: wenig Substanz und Charakter. "Ich überlasse es aber denen, die ihn gewählt haben, seinen Rücktritt zu fordern oder nicht", sagt Plaschnick. "Wulffs Fehler liegt im Verhalten, nicht darin, dass er von einem guten Freund Geld genommen hat", sagt Klaus-Peter Schroeder, Fraktionschef der FDP in Norderstedt.

Der Präsident müsse sich überlegen, ob er das Amt weiterhin so ausfüllen könne, wie das nötig ist. "Für mich offenbart die Affäre Wulff ein Grundproblem, nämlich die Verflechtung von Politik und Wirtschaft", sagt Miro Berbig, Fraktionschef der Norderstedter Linken. Deshalb sollten Parteien grundsätzlich keine Spenden von Unternehmern erhalten - die Linke sei die einzige Partei, die diesem Prinzip folge.