Der sechsährige Norderstedter hat die lebensbedrohende Krankheit, die aplastische Anämie, besiegt. Jetzt wird der Junge am Falkenberg eingeschult.

Norderstedt. Wie all die anderen Kinder wird er am Dienstag, 2. September, um 9 Uhr in der Aula der Grundschule Falkenberg stehen, aufgeregt und neugierig, nur eine Ansprache des Schulleiters Hanspeter Suwe von einem neuen Lebensabschnitt entfernt. Mathies Becker (6) wird eingeschult.

Knapp ein Jahr zuvor, am 29. September 2008, finden sich seine drei Patinnen Silke Brachmeyer, Connie Suhr und Anja Fürstenberg zusammen. Gerade hatten sie mit Mathies' Mutter Simone Becker telefoniert, die im Universitätskrankenhaus Hamburg neben dem Bett von Mathies sitzt. "Es sieht nicht gut aus, sagen die Ärzte. Tut, was ihr könnt. Wir haben nicht viel Zeit", hatte sie den Freundinnen gesagt. Schwere aplastische Anämie. Sein Blut ist kaputt und sein Knochenmark produziert kein gesundes mehr. Die Patinnen beschließen, etwas auf die Beine zu stellen, was Norderstedt so noch nicht gesehen hat. Eine Typisierungs-Aktion für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei. Denn nur ein Knochenmarkspender kann Mathies neues Leben geben. "Unser Ziel ist, dass Mathies nächstes Jahr eingeschult wird", sagen sich die drei. Und sie müssen sich Mut zusprechen, um daran zu glauben.

Vor einem Jahr schien nicht mehr viel Zeit zu bleiben

Der Rest der Geschichte ist bis weit über die Grenzen Norderstedts hinaus bekannt. Fast 4000 Norderstedter gaben ihr Blut für die Knochenmarkspenderdatei. Die Patinnen sammelten 200 000 Euro an Spenden ein, um die Kosten für die Typisierung zu decken. Schließlich fand sich ein Spender - nicht aus Norderstedt, ein anonymer Deutscher. Über den Jahreswechsel wurde Mathies mit den Spenderzellen behandelt. Seither ging es stetig aufwärts, schneller, als es die Eltern und auch die Ärzte zu hoffen gewagt hatten. Jetzt ist die Schultüte gekauft, der Schulranzen gepackt.

"Ich zeig Dir mal mein Trampolin", sagt Mathies am Donnerstag, flitzt in den Garten des elterlichen Hauses in Harksheide und beginnt wie ein Gummiball auf dem Trampolin auf und ab zu hüpfen. Das ist wieder der Mathies, wie ihn die Nachbarn vor der schweren Krankheit kannten. Das Cortison, das ihn zwischenzeitlich zehn Kilo schwerer gemacht hatte, ist aus seinen Adern heraus. Die kranken Blutzellen sind Vergangenheit, die neuen der Blutgruppe 0 negativ geben dem Sechsjährigen nun wieder die Vitalität, die er für ein normales Aufwachsen braucht.

"Er hat es geschafft", sagt Mutter Simone Becker. Sie sagt das ein wenig leise. So, als dürften dunkle Mächte es nicht hören, als könne die bloße Freude über das Erreichte einen Rückschlag erzeugen. Diese Vorsicht bei Mathies Eltern ist das Ergebnis ihrer monatelangen Routine, des zermarternden Wartens, des Schwebezustands zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Jetzt aber ist alles gut. "Die neuen Zellen sind gut angewachsen, seine Werte sind toll, seine Blutgerinnung wieder normal", sagt Simone Becker. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre eine Abwehreaktion des Körpers gegen die fremden Zellen. Kommt die in den nächsten fünf Jahren nicht, gilt Mathies als geheilt.

Schule ist zu wichtig, um sie wegen Viren zu meiden

Die Entscheidung, Mathies einzuschulen, haben sich die Eltern nicht leicht gemacht. "Letztlich haben die Ärzte das letzte Wort gehabt", sagt Simone Becker. Und von dort gab es grünes Licht. Mathies nimmt zwar noch Antibiotika, Mittel gegen die gefährlichen Abwehrreaktionen seines Immunsystems gegen die Spenderzellen und vier weitere Medikamente gegen Nebenwirklungen. Auch muss er nach wie vor U-Bahnen, Supermärkte und andere infektionsträchtige Orte meiden. Doch die Schule ist zu wichtig, um sie wegen ein paar Viren zu meiden.

Die Grundschule Falkenberg setzt sich unheimlich für Mathies ein. In Absprache mit den Eltern hat sie einen Zivildienstleistenden organisiert, der Mathies im ersten Schuljahr begleiten wird. "Mathies ist durch seine Geschichte ein sehr zurückhaltender Junge. Gerade, wenn er unter vielen Menschen ist", sagt seine Mutter. Mathies braucht immer feste Bezugspersonen. Zeitweise akzeptierte er nur die Mutter oder den Vater. Die Klassenlehrerin kann sich aber nicht nur um Mathies kümmern. Der Zivi schon.

Mathies muss sich an den normalen Alltag gewöhnen

Mathies freut sich auf die Schule. "Ich kenn da schon viele Kinder. Und einige sind meine Freunde." Dass er ab nächsten Mittwoch jeden Tag in die Schule muss, ist noch nicht ganz angekommen bei ihm. Mathies muss sich an den ganz normalen Alltag gewöhnen. Daran, dass nicht den ganzen Tag alle um ihn herum sind, dass nicht ständig Menschen mit großen Geschenken zu Besuch kommen. Seine Krankheit hatte ihn zum Hauptdarsteller in der Familie, in der Zeitung und eine Zeit lang in der ganzen Stadt gemacht. So viel Aufmerksamkeit hinterlässt Spuren bei einem kleinen Jungen. "Manchmal wünscht man sich den Knopf zum Ausschalten. Mathies ist sehr fordernd, was die Aufmerksamkeit angeht", sagt die Mutter. Auch für sie, ihren Mann und die beiden großen Schwestern von Mathies beginnt jetzt eine neue Zeit der Normalität. Simone Becker: "Langweilig wird mir bestimmt nicht. Es ist ja einiges liegen geblieben in den letzten Monaten."