Die Odyssee von 63 Asylbewerbern, die in Greifswald überfallen worden waren, endete in Norderstedt. NZ-Redakteur Jörg Schlömann berichtete am 20. Februar 1992 vom Abzug der BesetzerDie Odyssee von 63 Asylbewerbern, die in Greifswald überfallen worden waren, endete in Norderstedt. NZ-Redakteur Jörg Schlömann berichtete am 20. Februar 1992 vom Abzug der Besetzer

Die längste Kirchenbesetzung in der deutschen Geschichte ist zu Ende, die Norderstedter Schalom-Gemeinde hat ihr Gotteshaus wieder. Nach 106 Tagen haben die noch verbliebenen 15 Asylbewerber, darunter vier Kinder, und ihre selbst ernannten Beschützer die Kirche geräumt - zwischen Mitternacht und 7 Uhr gestern früh, unbemerkt von der Öffentlichkeit. Daher gibt es auch keine Anzeichen, wo sich die Flüchtlinge und die Autonomen aufhalten. Sie hinterließen ein Chaos.

Mit ihrem Untertauchen sind die Asylbewerber und die Unterstützer einer bevorstehenden Zwangsräumung durch die Polizei zuvorgekommen. Denn der Vorstand der Schalom-Kirchengemeinde hatte am Dienstagmorgen Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch gegen die Besetzer gestellt. Die kirchlichen Mitarbeiter waren psychisch und physisch am Ende, fühlten sich vor allem auch durch den begonnenen Hungerstreik unter Druck gesetzt. Mit ihrem Ultimatum an die Besetzer, die Schalom-Gemeinde bis Dienstag, 9 Uhr, zu räumen, hatte die Kirche ihnen als Ausweichmöglichkeit ein Pastorat im Kreis Stormarn angeboten. Die Besetzer hatten abgelehnt.

Um eine Zwangsräumung zu verhindern, waren im Laufe des Dienstags etwa 200 Sympathisanten aus der autonomen Szene nach Norderstedt gekommen. Ihre Zahl war bis Mitternacht auf etwa 50 abgebröckelt. "Das waren auch nicht mehr dieselben Beschützer, die anfangs hier waren", berichtete ein Kirchenvorsteher. Gegen 7 Uhr gestern Morgen wollten zwei Reporter, wie gewöhnlich, Posten bei der Schalom-Kirche beziehen. Da das Gebäude auf sie "einen toten Eindruck" machte, benachrichtigten sie die Polizei. Die anrückenden Beamten stellten fest: Die Kirche ist leer, aber verwüstet.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht unter den Mitarbeitern der Schalom-Kirche. Erleichtert vom Druck der vergangenen Wochen fielen sie sich in die Arme. Auch die angerichteten Verwüstungen konnten ihre Genugtuung über den relativ glimpflichen Ausgang der Kirchenbesetzung nicht trüben. Der Pastor einer Nachbargemeinde nahm eine Schalom-Mitarbeiterin in die Arme mit den Worten: "Herzlichen Glückwunsch, oder so ähnlich ..."

Zwar meinte Propst Willi Rogmann, der als einer der ersten von der Räumung der Kirche erfahren hatte, rechte Freude könne nicht aufkommen; aber auch er lächelte, als der Pinneberger Pastor Mathias Neumann, Mitglied des von der Synode gegründeten Ausschusses zur Entlastung der Schalom-Gemeinde, zwei kirchlichen Mitarbeiterinnen einen Frühlingsstrauß in die Hand drückte - als Dankeschön für die ausgestandenen Strapazen.

Was bleibt, ist ein Chaos in den Kirchenräumen. "Euer Jesus ist und bleibt weiß", ist an die Backstein-Stirnwand der Schalom-Kirche gesprüht, wo tags zuvor noch das Transparent mit der Aufschrift angebracht war: "Seit 8.2.: Hungerstreik für Bleiberecht in Schleswig-Holstein! Keine Abschiebung aus der BRD".

Das Transparent haben die autonomen "Beschützer" bei der Räumung des Gotteshauses mitgenommen, hinterlassen haben sie Verwüstung, offenbar aus Wut darüber, dass sich die anfangs wohlwollende Duldung durch den Kirchenvorstand in einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs umgekehrt hatte: Aufgeschlitzte Sitzpolster, mit Lackfarbe - umweltfreundlich, übrigens - beschmierte Wände. "Rassistenpack" ist an einen Betonpfeiler gepinselt.

In der Mitte des Gotteshauses ist auf dem braunen Teppichboden der Inhalt eines von der Wand gerissenen Feuerlöschers verspritzt worden. Die Tische sind beschmiert, überall randvolle Aschenbecher, Brandlöcher im Fußboden. Zerschlagene Stühle liegen umher, eilig geräumte Lagerstätten, dutzendweise leere und halbvolle Selterflaschen, Zigaretten- und Tabakpäckchen. Die Griffe der Türen zu den kirchlichen Büros, die den "Beschützern" in letzter Zeit verschlossen blieben, sind mit Farbe beschmiert, der Fußboden mit Lack getränkt. Fast alle Türschlösser wurden mit Sekundenkleber unbrauchbar gemacht.

Besonders empört ist der Kirchenvorstand über die Zerstörung eines sogenannten Hungertuchs, das in der Kirche hing. Ein etwa 80 Zentimeter langer Riss geht mitten durch diese textile Arbeit, die aus Haiti stammt und Szenen aus dem Leben Jesu darstellt. Auch vor dem Kreuz, das der Schalom-Kirche von einer evangelischen Gemeinde in El Salvador geschenkt worden war, haben die Besetzer nicht Halt gemacht: Es ist dick mit Farbe beschmiert.

Der Kirchenvorstand hat Strafanzeige wegen Sachbeschädigung erstattet. Dessen Sprecher Dr. Jürgen Knaack: "Das ist schon aus versicherungstechnischen Gründen erforderlich." Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen wegen Störung der Religionsausübung aufgenommen.

Wie hoch der angerichtete Sachschaden ist, mochte gestern noch niemand schätzen. Man werde wohl eine Firma mit den Aufräumungsarbeiten betrauen müssen, meinte ein Kirchenvorstandsmitglied. "Da sind wir überfordert."