Seit dreieinhalb Monaten schlägt sich die angehende Wildnis-Pädagogin aus Tangstedt in der Einöde des US-Bundesstaates Wisconsin durch. Die Norderstedter Zeitung veröffentlicht regelmäßig Auszüge aus ihrem Tagebuch. (2)

Die Natur hinkt hier ziemlich hinterher. Nachtfröste noch im Juni, oft war es kalt, und es regnete für Tage. Das seelische Befinden kann ganz schön den Bach runtergehen, wenn du dem Regen so ganz ohne Wand und Heizung und warmer Dusche ausgesetzt bist. Die Tiere hier haben nicht wirklich viel Zeit, ihre Jungen großzuziehen - der erste Frost kann schon Anfang September wieder Einzug halten.

Wir haben die ersten Bärenspuren nicht weit von unserem Camp entdeckt. Sollten wir aus Versehen mal näheren Kontakt bekommen: unauffällig zurückziehen, keinen Augenkontakt suchen, ist es zu spät, dann möglichst so viel Lärm wie möglich machen. Neben diesen "possierlichen Tierchen" gibt es hier in den Wäldern noch eine Raubkatze. Hier ist im Notfall der Augenkontakt zu suchen und der Rücken gegen einen Baum zu bringen.

Die wahren Verbrecher sind hier jedoch die Zecken und Moskitos! Solche "Mutantenzecken" habe ich noch nie gesehen (vierfache Größe). Als ich die erste entdeckte, hatte ich eine Krise und dachte, das geht gar nicht für mich. Inzwischen bin ich mehr als gelassen und erkenne den tollen Vorteil: Sie sind sofort sichtbar, und ich brauche nicht mehr an meinen Leberflecken herumzuzupfen, weil ich sie für eine Zecke halte. Und ganz wichtig: Sie übertragen keine Borreliose!

Es gibt Schlimmeres: Moskitos! Sie sind zu Tausenden da, umschwärmen und stechen. Ich habe meinen ersten Miss-Titel in meinem Leben: "Miss Moskito" - habe nämlich die meisten Stiche. Mein Körper ist eine einzige Huppelpiste, jetzt sehe ich doch den Vorteil, dass ich mich die ganze Zeit nicht im Spiegel sehen kann.

Es ist eine hungrige Zeit, und wir alle haben unsere Essensfantasien. Ich bin wohl an die zehn Kilogramm leichter als zu Beginn. Wir essen viele Insekten. Leider vertrage ich die Ameisen nicht, und somit bin ich dann auf Maden umgestiegen. Jedenfalls komme ich mir vor wie Renfield, der insektenfutternde Gehilfe von Dracula. Dann gibt es manchmal Froscheier (glibberige, geschmacksneutrale Masse, aber nahrhaft), geröstete Fischgräten (Kalzium). Und Achtung, Reitermädels zu Hause in Deutschland: Pferdebremsen sind essbar! Knacken ein wenig beim Reinbeißen, aber dann geht's.

Wir hatten zweimal Glück und bekamen einen Wildunfall in den Wald geliefert. Habe das erste Mal in meinem Leben ein Reh gehäutet und ausgenommen, mit den Händen im noch warmen Blut gebadet und rohes Fleisch direkt aus dem Tier gegessen. Erst hat es mich geschüttelt, doch es ist eine sehr andächtige, konzentrierte Arbeit. Wenn du das Tier mit Ruhe und bewusst zerteilst, kommt eine große Dankbarkeit für das Tier hoch, da es einem plötzlich Nahrung schenkt. Es ist fantastisch zu sehen, wo die Muskelstränge laufen, wo die Verbindungen von Gelenken und Sehnen sind, wie die inneren Organe im Körper liegen. Auch hier plötzlich eine tief empfundene Dankbarkeit für das Geschenk: Ein gefüllter Magen - Energie!

Wir haben dann für drei Tage Fleisch mitgenommen, länger können wir es nicht lagern. Am ersten Tag hatten wir Organ-Eintopf: Blut, Leber, Nieren, Lunge und Herz. Dann Magen- und Darm-Eintopf und Gehirneintopf, der sehr nahrhaft ist. Vorher müssen wir erst mal versuchen, den Schädel zu spalten und das Fell abzuziehen. Die ganzen Schädelteile werden einfach in den Topf geworfen und gekocht - das Gehirn verteilt sich dann in der Flüssigkeit. Ist schon komisch, wenn du dann ein Schädelteil mit Zähnen auf dem Teller hast.

Wir sind alle schwer mit dem Thema Essen beschäftigt und nicht sehr gelassen damit. Viele Ängste kommen hoch, die Frage: Was bedeutet Essen wirklich für mich? Warum kochen die Emotionen so hoch, wenn der Mensch Hunger hat? Die vermeintliche Sicherheit (die Selbstverständlichkeit, dass es immer Essen gibt) ist plötzlich weg. Es wird klar, dass Essen nicht nur mit Energieversorgung des Körpers zu tun hat. Essen bedeutet so viel mehr in unserem Leben, es kann Symbol für Komfort, Liebesersatz, Sicherheit, soziales Leben, Flucht usw. sein. Dieses Netz mit doppeltem Boden fällt nun weg. So langsam kommt die Erkenntnis: Kontrolle ist eine Illusion, wir haben keine, das Leben geht seine eigenen Wege. Hunger macht flexibel. Plötzlich isst du das ganze "Unkraut", das du sonst in deinem Garten bekämpfst - Ameisen und Maden, Augen, Gehirn usw.

Hier ist es die Flexibilität in der Nahrung, doch ich glaube es macht damit flexibel, was das ganze Leben angeht - wie begegne ich unerwarteten Situationen im Leben? Starr oder flexibel? Somit kreieren wir unsere eigene Realität im Leben, wir können die Fülle und die Möglichkeiten in jeder Situation erkennen, oder aber wir sind starr vor Schrecken und handlungsunfähig - liegt an uns.

Hier draußen lernst du, für alles offen zu bleiben und wieder: den anderen nicht mit den eigenen Filtern zu bewerten.

In den Umständen hier draußen ist jeder verwundbar, und der einzige Weg da durch und raus ist, sich mit allem, was da ist, zu zeigen. Und siehe da, es geht irgendwie jedem ähnlich, jeder will irgendwie auch nur verstanden werden, niemandem mehr die Schuld geben - alle Wege führen immer nur zur mir selbst zurück.

Die Perspektive zu den Dingen ändert sich, es gibt so viel mehr, was wir nicht wissen und so viele andere "Wahrheiten", nicht nur die eine, die meine! Bis bald