In den 700 Jahren der Gemeinde fehlen die ganz großen Ereignisse, sagt Archivar Horst Völksen. Ein Blick in die Chronik ist trotzdem spannend - wenn man aufmüpfige Bauern, ungnädige Gutsherren oder den Dichter Detlev von Liliencron mag.

Tangstedt

Archivare haben im Allgemeinen den Traum, irgendwann das ganz große historische Dokument aus einem verstaubten Aktenschrank oder einem vergessenen Kellerraum zu ziehen. Horst Völksen (61) hingegen, das offizielle Geschichtsgedächtnis der kleinen Gemeinde Tangstedt, hält sich nicht lange mit derartigen Träumereien auf. Stattdessen hat er eine erfrischend nüchterne Sicht auf den Lauf der Geschichte des Dorfes. "Machen wir uns nichts vor", schreibt er in der Festschrift Tangstedts zum 700-jährigen Bestehen, " Tangstedt und die umliegenden Dörfer waren über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte mehr oder weniger verträumte, vor allem aber arme Dörfer. Deutsche Geschichte (oder gar Weltgeschichte) wurde hier nicht geschrieben."

Heute ist Tangstedt immer noch ein wenig verträumt. Nur nennt sich das heute anders, die "Gemeinde im Grünen" etwa. Arm sind Tangstedt und die umliegenden Dörfer nicht zu nennen, und die Bewohner auch nicht. Es gibt große Villen und schmucke Einfamilienhäuser, darin oftmals gutverdienende Hamburger, die es ins Umland zog.

Vor 700 Jahren war an gleicher Stelle nicht eben viel. "Ein paar Bauernhöfe vielleicht, mehr nicht", sagt Horst Völksen. Trotzdem reichte das für eine erste urkundliche Erwähnung der Gemeinde.

Würde Johannes, genannt Rodheman, der 1309 in "Tancstede" eine Hufe bewirtschaftete, in eine Zeitmaschine steigen und 2009 wieder aussteigen - er würde aus dem Staunen wohl nicht mehr heraus kommen. Dieser Rodheman wird am 2. Februar 1309 zusammen mit Heinrich, dem Sohn der Vester, in einer Urkunde von "Gottschalk, von Gottes Gnaden Dekan der hamburgischen Kirche und das ganze Kapitel ebendort" verewigt. Der Dekan freute sich trefflich über den Ritter Hartwig von Hummersbutle, der damals "in Campe neben Bergedhorp" residierte und dem große Ländereien, einschließlich der Hufen von Rodheman und Heinrich und des kompletten Tangstedts gehörten. Der edle Ritter hatte netterweise all sein Land der Kirche vermacht, in Form der "Vikarie". Außerdem verfügte der Ritter, dass Rodheman und Heinrich an jedem seiner Geburtstage gemeinsam acht Scheffel Weizenmehl an die Kirche zu entrichten hätten. So nervig das für Rodheman und Heinrich gewesen sein mag - für Tangstedt ist die Vikarien-Urkunde gleichsam die Geburtsurkunde. Wir wissen nicht, was aus Rodheman und Heinrich geworden ist. Überhaupt ist nicht viel überliefert aus den frühen Jahrhunderten der Tangstedter Existenz. Klar ist nur, dass Tangstedt wie ein Wanderpokal von einem Besitzer zum nächsten gewandert ist. Dazu Horst Völksen: "Die schleswig-holsteinische Geschichte ist sehr kompliziert. Die kann man einem Normalmenschen kaum verklickern. Das gilt auch für die Geschichte Tangstedts." Seit 30 Jahren lebt der gebürtige Hannoveraner in Tangstedt, seit fünf Jahren pflegt er das Gemeindearchiv, das von seiner Vorgängerin Ilse Völker in den 80er-Jahren aufgebaut wurde.

Wer in der Chronik blättert, stößt nicht auf große Geschichte, sondern kleine Geschichtchen. Etwa die vom Dichter Detlev von Liliencron (1844-1909), dessen naturalistische Gedichte Rainer Maria Rilke genauso wie Hugo von Hofmannsthal beeinflusst haben und der gerne im 1650 erbauten Herrenhaus des Gutes Tangstedt vorbeischaute und den unter einer Buche zwischen Wilstedt und Tangstedt einst bei einer Rast die Muse geküsst haben soll. Oder auf die Geschichte des Aufstande des Tangstedter Bauern im Jahr 1839 gegen das "Regulativ", mit dem die Gutsherren nach Gutsherrenart den Gutsuntertanen noch mehr abverlangen wollten. Es kam zu Ausschreitungen und jahrelangen hitzigen Debatten. Der Borsteler Graf von Baudissin soll 1852 schlichten - und scheitert. Er schreibt dem dänischen Königshof: "Allein, man braucht nur das Regulativ zu nennen, so herrscht gleich eine Aufregung unter den Leuten, dass niemand mehr zu Worte kommen kann. Überhaupt ist die ganze Bevölkerung des Gutes eine so widerspenstige, misstrauische und in ihrer Dummheit sich klug dünkende Rasse, die, von den Winkeladvokaten instruiert, jede Unterhaltung unmöglich macht." Will meinen: Die Tangstedter waren schon immer ein Völkchen, das nachgedacht hat und sich nicht alles gefallen ließ.

Wer die heißen Diskussionen im Dorf über den Kiesabbau erlebt hat, erkennt schnell, dass sich dieser Geist bis heute im Dorf bewahrt hat.