Immer mehr Gewalt an Kindern: 531 Meldungen über gefährdete Kinder und Jugendliche gingen in diesem Jahr bei den Jugendämtern ein.

Kreis Segeberg. Sven Küker ist ein erfahrener Sozialpädagoge. Er weiß, wie dünn das Eis oft ist, auf das er sich begeben muss: Er gehört zu den Mitarbeitern des Kreisjugendamtes, die Hinweisen nachgehen müssen, wenn ein Kind in Gefahr ist. Vernachlässigung von Kindern, Gewalt gegen Kinder, Eltern, die ihre Kinder verwahrlosen lassen - es kommt immer wieder zu spektakulären Fällen, die eine breite Öffentlichkeit aufrütteln. Die Jugendämter haben den Auftrag, das Wohl der Kinder zu schützen. Denn Kinder haben ein Recht darauf, gesund und geborgen aufzuwachsen. Wann aber beginnt die Gefährdung eines Kindes tatsächlich? Wie offensichtlich muss die Vernachlässigung eines Kindes sein, damit Freunde, Nachbarn oder andere Kontaktpersonen aufmerksam werden?

In der Weihnachtszeit muss das Jugendamt besonders oft eingreifen

Die nüchternen statistischen Daten des Kreisjugendamtes lassen vermuten, dass es überall und nahezu jeden Tag irgendwo im Kreis Segeberg Fälle gibt, hinter denen eine Gefährdung für Kinder steckt. 361 Meldungen - also fast jeden Tag eine - Sven Küker und seine Kollegen wissen, dass sie in der Weihnachtszeit besonders häufig eingreifen müssen. "Die Emotionen gehen hoch." Häufig sind die Kinder dann auch einem besonderen Stress ausgesetzt, weil getrennt lebende Eltern sich gerade in dieser Zeit ihrer erinnern und jeder sie für sich haben will."

Der Sozialpädagoge, der seit vier Jahren für das Jugendamt des Kreises Segeberg tätig ist, kennt diese Situationen. Nicht immer ist es für ihn Anlass zum Eingreifen. Beim Kinderschutz muss zwischen Elternrecht und Kindeswohl abgewogen werden: In welcher Weise muss das Wohl des Kindes gefährdet sein, dass der Staat in das verfassungsrechtlich gesicherte Elternrecht eingreifen darf? Diese Einschätzung der Gefährdung müssen die Fachkräfte fast täglich in oft komplexen und undurchsichtigen familiären Situationen treffen.

Viele Menschen sind nicht gleichgültig, wenn es um das Wohl der Kinder in der Nachbarschaft geht. Aber kaum jemand mag sich offiziell äußern - zu groß ist die Gefahr, als Denunziant angesehen zu werden. Die meisten Meldungen gehen deshalb auch anonym beim Jugendamt ein. "Etwa zweimal in der Woche erreichen uns diese Meldungen", sagt Dagmar Kristoffersen von der Fachstelle Kinderschutz im Jugendamt der Segeberger Kreisverwaltung.

Wenn es ganz dringend erscheint, fährt sofort ein Mitarbeiter los, in den meisten Fällen aber wird zunächst im Team eine Einschätzung der tatsächlichen Gefährdung vorgenommen. Oft hilft dabei auch ein Blick in die vorhandenen Unterlagen: "Viele betroffene Familien sind uns bereits durch andere Vorgänge bekannt", sagt Sven Küker, der zusammen mit seinen Kollegen sehr schnell eine realistische Einschätzung der Gefährdung vornehmen kann. Kriterien sind das Alter des oder der möglicherweise gefährdeten Kinder - je jünger die Kinder, desto größer die sofortige Aufmerksamkeit. Ist Gewalt im Spiel? Wenn ja, häusliche oder sexuelle? "Wenn wir nicht sicher sind, fahren wir los, denn hinter jeder Information kann sich eine Katastrophe verbergen", sagt Sven Küker, der sich des schmalen Ermessensgrates, auf dem er und seine Kollegen sich bewegen, jederzeit bewusst ist.

Vernachlässigung oft durch Unwissenheit der Eltern

Immer sind es zwei Mitarbeiter, die in solchen Fällen ausrücken. In manchen Fällen wird die Polizei zur Unterstützung mitgenommen. Aber auch ohne Polizeiunterstützung lassen die Eltern die Mitarbeiter des Jugendamtes, die hier nicht als Vollzugs-, sondern als Zivilbehörde erscheinen, in die Wohnung. "Wir erleben oft, dass sie es gut finden, wenn man sich kümmert." Ist allerdings Gewalt gegen Kinder im Spiel, greift auch die Polizei ein - zum Beispiel dann, wenn zu befürchten ist, dass ein Elternteil regelrecht durchdreht. Impulssteuerung ist der Fachbegriff dafür. In Einzelfällen kommt auch gleich der sozialpsychatrische Dienst mit.

Aber aggressive Eltern sind eher die Ausnahme. Sven Küker schafft es meistens, mit den Eltern ein ruhiges Gespräch zu führen, nachdem er für sich und seine Gesprächspartner in der häufig unaufgeräumten Wohnung Platz geschaffen hat. Dabei stellt sich häufig heraus, dass die Eltern überfordert sind und schon von sich aus sagen, dass sie Hilfe benötigen. Das Umsetzen aber ist oft schwierig. Meistens müssen verschiedene Institutionen eingebunden werden. Wirtschaftlicher Druck, Trennung der Eltern, Verhaltensauffälligkeiten von Kindern, mit denen die Eltern nicht umgehen können sind oft Gründe für gespannte Situationen in den Familien.

Sven Küker hat dabei festgestellt, dass der Begriff "Vernachlässigung" schwer zu definieren ist. "Oft handelt es sich um Unwissenheit der Eltern", sagt der Sozialpädagoge. "Die Kultur des Weitergebens von Erziehungsgrundsätzen geht verloren." Und: "Es fehlt in den Familien manchmal ein strukturierter Tagesablauf." Tatsächlich, so hat er festgestellt, nehmen aber auch die psychischen Erkrankungen zu. Die soziale Kompetenz sei vielfach nur schwach ausgeprägt. Wichtig ist für ihn der ständige Austausch mit Kollegen, um in der Praxis die richtigen Entscheidungen zu treffen.

"Manchmal benötigen Eltern bei Sorgen und Problemen mit Kindern nur einen Rat", sagt Lorenz Schneider, Fachdienstleiter für sozialpädagogische Hilfen beim Kreis Segeberg. "Manchmal ist die Situation in der Familie aber auch so verfahren, dass sie allein nicht mehr weiter wissen."

In diesen Situationen können sich Familien, Kinder und Jugendliche an den Allgemeinen Sozialen Dienst wenden. Die Fachkräfte vermitteln in Konfliktsituationen, beraten professionell bei Erziehungsproblemen sowie familienrechtlichen Konflikten und informieren über weitergehende Hilfen zur Erziehung oder psychologischen Entwicklungsmöglichkeiten. "Ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und die Bedürfnisse aller Beteiligten zu berücksichtigen, sind wichtige Leitlinien unserer Arbeit."

In diesem Jahr wurden 115 Kinder in Obhut genommen

Im Fachdienst sozialpädagogische Hilfen des Kreises Segeberg arbeiten 35 Mitarbeiter. An vier Standorten (Kaltenkirchen, Wahlstedt, Bad Bramstedt und Bad Segeberg) sind Sozialpädagogen tätig, die Eltern bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen unterstützen. Norderstedt hat ein eigenständiges Jugendamt.

340 Kinder und Jugendliche befanden sich 2010 in Fremderziehung, davon etwa 200 Kinder in einer Vollzeitpflege. In diesem Jahr wurden vom Kreisjugendamt bisher 84 Kinder in Obhut genommen - sie befanden sich in einer akuten Krise oder einer dringenden Gefahr. Die Kinder können selbst darum bitten oder andere (Nachbarn, Erzieher, Polizei) machen das Amt auf die Gefahr aufmerksam. Ziel einer Inobhutnahme ist neben der unmittelbaren Hilfe im Falle einer Krise auch eine Beratung, die Klärung wichtiger Fragen, Vermittlung, Unterstützung und, falls erforderlich, die Vorbereitung und Einleitung weiterer Hilfsangebote.

Untergebracht werden diese Kinder in Bereitschaftspflegestellen bei Privatleuten oder in Wohngruppen des Jugendgemeinschaftswerks Neumünster. "Diese Zeit sollte sechs Wochen nicht übersteigen", sagt Lorenz Schneider. "Allerdings kommt etwa die Hälfte der Kinder in weiterführende Hilfen. Oder es wird eine Familienhilfe installiert." Im Bereich des Norderstedter Jugendamtes wurden in diesem Jahr bisher 31 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen.

Unter den 361 Meldungen für eine Kindeswohlgefährdung - das ist der Fachbegriff -, denen die Mitarbeiter nachgegangen sind, waren auch 194 Meldungen, die versäumte Vorsorgeuntersuchungen betreffen. Das Jugendamt wird vom Gesundheitsamt informiert, wenn Eltern mit ihren Kindern nicht zu diesen Untersuchungen beim Kinderarzt erscheinen. Vom Gesetzgeber ist vorgesehen, diese Meldungen wie eine Kindeswohlgefährdung zu betrachten und aktiv zu werden. Lorenz Schneider: "In 98 Prozent der Fälle stellt sich heraus, dass Eltern vergessen haben, ihre Antwort an das Landesfamilienbüro zu schicken." Das jedenfalls behaupten sie gegenüber den Mitarbeitern des Jugendamtes. In Norderstedt sind in diesem Jahr bisher 170 Meldungen über eine Kindeswohlgefährdung eingegangen. 120 davon betreffen versäumte Vorsorge-Untersuchungen.

Das Landesfamilienbüro informiert den kinder- und jugendärztlichen Dienst der Kreise oder Städte immer dann, wenn eine Früherkennungsuntersuchung auch nach einmaliger Erinnerung nicht wahrgenommen wird. Diese Fachabteilung schaltet dann das Jugendamt ein.