Eine Glosse von Andreas Burgmayer

Dichtung ist immer nur eine Expedition nach der Wahrheit. Sagt Franz Kafka. Und wer geht nicht gerne auf eine spannende und ergreifende Expedition. Voraussetzung ist ein Expeditionsleiter, der die Dichtung virtuos beherrscht und die Wahrheit nicht völlig aus dem Auge verliert.

Was waren das für herrliche Zeiten. Als wortgewandte Charismatiker ganze Tischrunden mit amüsanten Geschichten unterhalten konnten. Mit Verve über diverse Themen der Zeitgeschichte flogen, dass es nur so eine Freude war. Damen wie Herren lauschten beglückt, attestierten dem Vortragenden Weltgewandtheit und Intellekt. Und wenn die dritte Flasche Rioja leer war, gingen alle beseelt nach Hause und hatten sich lieb.

Heute hat der wortgewandte Charsimatiker kaum das Wort ergriffen, sich kaum in die erprobte Inszenierung seiner Geschichte verstiegen, da meldet sich aus der Tiefe der Runde ein Jemand, der ansonsten nur durch das beständige Nach-Unten-Schauen auffällt. "Also das mit dem Bruttosozialprodukt der nepalesischen Reisbauern, das stimmt so nicht!" Der Jemand hat auf dem ständig in seiner Hand liegenden Smartphone mal eben die Homepage der nepalesischen Reisbauern gecheckt und beglückt die Runde jetzt mit exaktem Datenwissen.

Jetzt wissen es alle aber ganz genau! Juhu, der Charismatiker ist als Halbwissender entlarvt, die Stimmung wird von der Peinlichkeit des Augenblicks getrübt - und nachdem die erste Flasche Rioja zur Hälfte geleert ist, gehen alle nach Hause und sind sogar froh darüber.

Wenn alle Menschen immer die Wahrheit sagten, wäre das die Hölle auf Erden, sagte Jean Gabin.