Robert hat genug von der Welt. Er ist 50 Jahre alt und müde. Außerdem hat er Angst.

Da macht er einen folgenschweren Schritt. Freiwillig geht er in ein Heim, lässt sich betreuen, will nicht mehr kämpfen, gewinnen oder verlieren. Er will es einfach haben und versorgt sein. Sein Geist ist ganz frisch. Er hilft in der Küche und im Garten. So arbeitet er für Kost und Unterkunft. Er geht viel spazieren. Und außerdem schreibt er. Robert ist ein begnadeter Schriftsteller. Seine Bücher sind schön, aber sie verkaufen sich nicht. Papier aber will er keins mehr. Er schreibt auf Bierdeckel, auf Speisekarten und Zettel, die er irgendwo findet. Er schreibt Geschichten und kleine Sätze. Und immer mit Bleistift. Seine Schrift ist kaum zu entziffern, fast wie eine Geheimschrift. Aber eines Tages, lange nach seinem Tod, findet doch jemand den Schlüssel zu den vielen Texten. Einen Satz hat Robert Walser aufgeschrieben, der ist wunderbar und wahr. Auf einem der kleinen Zettel steht: "Anspruchslosigkeit ist eine Waffe; vielleicht eine der glänzendsten, die es im Leben gibt." (Robert Walser, 1878-1956; aus dem Bleistiftgebiet, Band V).

Das stimmt einfach. Ansprüche machen das Leben schwer, wenn sie nicht erfüllt werden. Jeder neue Wunsch und jeder Plan machen nervös. Man muss immer schauen, dass sich die Ansprüche auch erfüllen, dass man nicht leer ausgeht und bitter wird. Je weniger Ansprüche ich habe, desto mehr kann ich das genießen, was da ist. Je weniger ich will, umso schöner wird das, was ich habe. Anspruchslosigkeit macht das Leben leichter. Ich muss mich nicht verbeißen. Ich muss nicht dauernd warten, bis sich endlich erfüllt, was ich unbedingt haben will. Je weniger Anspruch, desto leichter ist das Glück. Sagt Robert. Anders gesagt: "Was hilft es dem Menschen, wenn er alles Mögliche gewinnt, aber die Seele dabei verliert?" (Matthäus 16,26). Meine Seele braucht immer nur Kleinigkeiten. Und wenn ich's recht bedenke, sind die alle schon in meiner Nähe.

Christina Henke-Weber ist Pastorin der Thomaskirche Glashütte