Wie fühlt es sich an, wenn ein Kernkraftwerk abgeschaltet wird? Ein Besuch bei zwei Männern, die im AKW Stade gearbeitet haben

Stade. Das Wort "Atom" sei ja sehr negativ belegt, sagt Werner Hecker. Aber er habe eigentlich kein Problem damit, nein, überhaupt nicht. Dennoch spreche er lieber von "Kernkraft" und "Kernkraftwerk". Das sei ihm lieber. Untereinander würden sie sich ja schließlich "Kernies" nennen. Weil sie so viele Jahre zusammen im Kernkraftwerk Stade gearbeitet haben.

Uwe Merckens hat auch im Atomkraftwerk Stade gearbeitet, aber das ist lange her. Er ging später auf die Straße, demonstrieren gegen die Atomenergie. Er nennt die ehemaligen Mitarbeiter des Kernkraftwerks Stade nicht "Kernies", sondern "Atomies".

Am 14. November 2003 wurde das AKW Stade abgeschaltet, nach 31 Jahren. Der Tag sitzt wie ein Stachel im Leben von Werner Hecker. Für Uwe Merckens war der 14. November 2003 Triumph und Trauma zugleich. Wie fühlt sich das an, wenn ein Atomkraftwerk für immer abgeschaltet wird? Gerade jetzt, zur Zeit der Atom-Katastrophe von Japan, in der so viele eine Abschaltung deutscher Meiler fordern.

Werner Hecker, 65 Jahre alt, ist hoch gewachsen und mittlerweile Rentner. Er hat einen wachsamen Blick. Im Heimatverein ist er für den Steinbackofen und das Brauwesen zuständig, in der Segelschule bildet er den Nachwuchs aus, in einer Brüderschaft unterstützt er die Armen. Hecker hat sich das Leben nach dem Kernkraftwerk mit ehrenamtlicher Arbeit vollgepackt. Er will etwas Sinnvolles machen. Zum Gespräch über sein Kernkraftwerk möchte er nicht raus zur Anlage fahren. Es tue noch weh, sagt er.

Werner Hecker studierte Maschinenbau in Hamburg. Nebenher jobbte er im Kernkraftwerk Stade. Sein Job bestand darin, Proben aus dem Reaktor zu ziehen und das Wasser auf Reinheit und Radioaktivität zu prüfen. Nach dem Studium wurde er übernommen. "Es ist eine schöne Technik, eine saubere Technik", sagt er. "Die Arbeit hat Spaß gemacht." Hecker ist immer noch fasziniert von der Energie, die bei der Kernspaltung entsteht und in Strom umgewandelt wird. So schön, so sauber. Morgens fuhr Hecker zwölf Kilometer mit dem Rad zur Arbeit. Tagsüber lernte er die Systeme im Kernkraftwerk kennen, die Brennstäbe, den Kühlkreislauf, den Dampferzeuger. "Im Prinzip wusste ich alles über die Anlage."

1984 war er Schichtleiter und für die Überwachung der Anlage zuständig. Dann explodierte Tschernobyl.

Uwe Merckens hat rosige Wangen und eine gemütliche Figur. "Unser süßes kleines Atomkraftwerk", sagt der 58-Jährige und lacht. "Es sieht aus wie ein Negerkuss. Vielleicht war deshalb die Akzeptanz so groß." In ein paar Jahren wird von der Anlage nichts mehr zu sehen sein. Seit 2003 wird sie rückgebaut, in Einzelteile zerlegt. Bis 2016 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein.

Merckens hat Maschinenschlosser gelernt. 1980 und 1981 musste er für eine Stader Firma im Atomkraftwerk Stade Ventile einbauen, im Kontrollbereich und im Bereich der Brennelemente. "Das Wort ,Atomkraftwerk' war damals völlig neutral besetzt." Und er sei da reinmarschiert wie alle anderen Arbeiter auch. "Man hat uns erklärt, wenn es zu einem Unfall kommt, geht man raus und wäscht die Strahlung einfach ab - dann wäre man wieder sauber." Doch Merckens begann Fragen zu stellen, kam in Kontakt zu AKW-Gegnern, erfuhr mehr über die Gefahren der Kernenergie. Er schulte um, wurde Sozialarbeiter. Und Mitglied der Grünen. Er wollte Demos organisieren, die Stader aufrütteln. Spätestens seit der Katastrophe von Tschernobyl.

Was vor beinahe 25 Jahren passierte, "war für uns alle ein Hammer", erinnert sich der Ingenieur Werner Hecker. "Wir waren fürchterlich konsterniert. Wir haben plötzlich unsere Arbeit hinterfragt." Von Bekannten sei er damals gefragt worden: "Kannst du da überhaupt noch arbeiten?" Hecker konnte. Weil er davon überzeugt war, dass er alles über die Anlage wusste.

Draußen, vor dem Werkstor, auf der anderen Seite, stand Uwe Merckens. Ein paar Hundert Leute waren gekommen. Unter ihnen vielleicht 50 Demonstranten aus Stade. Höchstens. Denn die Stader hatten kein Problem mit dem Atomkraftwerk, das acht Kilometer vor der Stadtgrenze lag.

Das Atomkraftwerk hat Stade wohlhabend und schön gemacht. Die Gewerbesteuer wurde in die Sanierung der Altstadt investiert. Die vielen schönen Fachwerkhäuser, das schmucke Rathaus, die Veranstaltungshalle "Stadeum": alles mit Geldern aus der Atomzeit bezahlt.

"Wenn so was wie Tschernobyl kommt und man von außen angefeindet wird, dann rückt so ein Haufen zusammen", sagt Werner Hecker. Es gab eine Volleyball-Gruppe, eine Anglergruppe, die Skatrunde, den Radfahrer-Club. "Wir haben auch in der Freizeit viel über die Anlage gesprochen. Wir sind immer zu dem gleichen Schluss gekommen: dass wir aufgrund unserer guten Arbeit solche Störungen wie in Tschernobyl nicht haben können."

Im Jahr 2000, Werner Hecker war gerade stellvertretender Betriebsratschef geworden, beschloss die rot-grüne Regierung von Gerhard Schröder den Atomausstieg. Ausgerechnet Stade sollte den Anfang machen. Das war keine Entscheidung der Politik, sondern eine Entscheidung des Betreibers E.on: Der Standort Stade war alt und verursachte einfach zu hohe Kosten im Vergleich zu anderen Standorten. Dennoch richtete sich die Wut der "Kernies" gegen die Politik. "Wir waren völlig schockiert", sagt Hecker heute. "Die rot-grüne Bundesregierung brauchte ein Erfolgserlebnis, wir waren das Bauernopfer." Hecker organisierte damals eine Pro-AKW-Demo. 2000 Stader kamen.

"Wir Grünen waren deren Feinde", sagt Uwe Merckens. Denn alle anderen Parteien in Stade - einschließlich der SPD - machten mit bei der Pro-AKW-Demo. Es gab Droh-Anrufe, Merckens wurde geschnitten. Einmal, beim Einkaufen, habe sich ein "Atomie" vor ihm aufgebaut. Er sagte: "Du bist schuld daran, dass wir demnächst keine Arbeit haben." Als die Grünen in einem Lokal eine Veranstaltung abhalten wollten, versperrten ihnen "Atomies" den Weg. "Wir hatten Angst damals. Ich fühlte mich nicht sicher", sagt Merckens.

Es gab einen Sozialplan für die Beschäftigten. Ingenieure wurden in anderen Anlagen gebraucht, Handwerker bekamen andere Aufträge oder wurden im Rückbau der Anlage beschäftigt. Arbeitslosigkeit war nicht das Problem, eher das Selbstwertgefühl der Abgeschalteten.

Der 14. November 2003 war ein Freitag. Erst drückte der Reaktorfahrer den Knopf für die Turbinen-Schnellabschaltung, anschließend den Knopf für die Reaktor-Schnellabschaltung. Dann verstummte das Rauschen der Anlage. Um 8.32 Uhr war es still. Hecker ist noch heute froh, dass er damals nicht auf der Warte war. Es gab noch eine Betriebsversammlung, danach gingen alle Mitarbeiter frustriert nach Hause.

Die Grünen feierten an diesem Abend eine "Abschalt-Party": "Es gab Sekt, das Gefühl an diesem Abend war berauschend", erinnert sich Merckens.

Werner Hecker ist immer noch empört über die "makabre Party". Die AKW-Beschäftigten hätten sich noch überlegt, ob sie dagegen demonstrieren sollten. Sie entschieden sich dagegen. "Wir haben uns gedacht: Die Freude gönnen wir denen nicht."

Als Betriebsratschef wickelte Hecker den Betrieb mit ab. Die meisten Kollegen, sagt er, haben es emotional nicht geschafft, ihre Arbeitsstätte mit dem Schneidbrenner zu zersägen. 2006 war für ihn Schluss.

Oft hat er an sein Atomkraftwerk gedacht. Seit der Katastrophe von Japan grübelt er täglich. "Das war für mich nicht vorstellbar. Ich war der Meinung, dass der Sicherheitszustand der japanischen Kernkraftwerke sehr gut war. Ich habe Probleme, das nachzuvollziehen", meint er. Konsequenzen für sein eigenes Wirken sieht er nicht: "Ich denke, dass meine Kollegen und ich alles getan haben, um die Anlage sicher zu machen." Auch gegen Flugzeug-Attacken und Ausfälle des Notstrom-Aggregats wäre Stade gewappnet gewesen. "Ich weiß, dass der Sicherheitsstandard in deutschen Kernkraftwerken hoch ist. Ich habe lieber eine solche Anlage bei mir als in anderen Ländern, wo ich Angst haben muss, dass der Sicherheitsstandard nicht gewährleistet ist. Abschalten macht keinen Sinn."

Uwe Merckens, der Grüne, glaubt, dass die Stader mittlerweile anders über Atomkraft denken: "Die meisten sind gegen Atomenergie." Zur Mahnwache für Japan am vergangenen Montag kamen 300 Menschen.

Merckens lässt nicht den großen Sieger raushängen. Seit 14 Jahren ist er Fraktionsvorsitzender der Grünen im Stader Stadtrat. "Es hat sich doch gelohnt, dranzubleiben", sagt er und lächelt. Er kennt Werner Hecker nur flüchtig, verstehen kann er ihn nicht. "Ich kann seine Haltung für die Atomkraft nicht nachvollziehen - wenn er selbst nach Japan noch daran festhält."

Werner Hecker sagt, er habe keine Probleme mit Merckens. "Wer weiß", sagt er, "wenn ich beruflich etwas anderes gemacht hätte, dann hätte ich vielleicht jetzt zur Kernkraft eine andere Meinung." Doch sein berufliches Lebenswerk sieht er zerstört. "Ich bin frustriert und unzufrieden."

Regelmäßig trifft er sich mit seinen ehemaligen Kollegen. Einmal im Jahr machen sie einen Ausflug, im vergangenen Jahr sind sie nach Neuwerk gewandert. Werner Hecker sagt: "Unser Kernkraftwerk hätte bis zum Jahr 2019 weiterlaufen können."