Der Grünen-Politiker Stefan Wenzel zieht im Abendblatt-Interview sein Fazit aus dem Untersuchungsausschuss zum maroden Endlager Asse.

Hannover. Wissenschaftler, die sich der Politik unterwerfen, Kumpanei zwischen Regierung und Atomwirtschaft, Täuschung der Öffentlichkeit. Das sind die Erkenntnisse, die Stefan Wenzel, Grünen-Fraktionschef im niedersächsischen Landtag, aus dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum atomaren Versuchsendlager Asse gewonnen hat. In dem maroden Bergwerk bei Wolfenbüttel wurden von 1967 bis 1978 rund 126 000 Fässer mit radioaktivem Müll eingelagert. Der Ausschuss hat seine Zeugenvernehmungen fast beendet, jetzt geht es um die Bewertung. Im Gespräch mit dem Abendblatt zieht Wenzel sein Fazit.

Hamburger Abendblatt: 60 Sitzungen in anderthalb Jahren, musste das sein?

Stefan Wenzel: Wir wissen viel mehr über das radioaktive Inventar. Dreimal so viel Plutonium wie angenommen, zehnmal mehr mittelaktiver Müll, kaputte Fässer, pulverförmige Abfälle, die überhaupt nicht zugelassen waren. Aber wir müssen noch klären, was an hoch radioaktivem Müll dort verbuddelt wurde - die Klärung des Inventars ist unabdingbar für die Rückholung. Und nicht zu vergessen: Wir haben nachvollziehen können, wie die Öffentlichkeit über Gefahren getäuscht worden ist und wie alle Kritiker der Salzlinie mundtot gemacht wurden.

Warum sollten Politik und Wissenschaft das tun?

Wenzel: Die Asse war von Anfang an der Prototyp für Gorleben - der eingleisige Ansatz der Endlagerung ohne Prüfung von Alternativen wie Ton oder Granit. Und um das Projekt Gorleben durch wachsenden öffentlichen Widerstand nicht zu gefährden, wurde etwa die radioaktive Verseuchung von Lauge in der Asse jahrelang vertuscht, die Gefahr eines Absaufens der Grube wider besseres Wissen geleugnet. Der völlig überforderte Betreiber Helmholtz-Zentrum durfte Jahrzehnte erfolglos versuchen, ein Schließungskonzept zu entwickeln.

Kann man überhaupt mehr als 30 Jahre danach seriös aufklären?

Wenzel: Die Auswertung von Akten ist ertragreicher als Vernehmungen - auch deshalb, weil wir immer wieder gehört haben: Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht erinnern, ich war nicht zuständig. Ich habe es satt, Politiker, Industrievertreter, Ministerialbürokraten und Wissenschaftler mit Gedächtnisverlust zu erleben.

Aber haben nicht alle Beteiligten für sich reklamiert, sie hätten nach dem Stand von Forschung und Technik gehandelt?

Wenzel: Was wir im Ausschuss Stück für Stück nachvollzogen haben, ist für mich zugleich ein Blick in den Abgrund einer nur vermeintlichen Wissensgesellschaft. Wichtige Entscheidungen werden unterlegt mit wissenschaftlich belastbaren Fakten, so soll es sein. Bei der Asse haben wir eine andere Realität erlebt, wie mitten in Deutschland eine solche Anlage über Jahrzehnte betrieben wurde trotz früherer fragwürdiger Ergebnisse über die Geologie und Wasserzuflüsse, trotz kritischer Stimmen. Aber es gab keine Konsequenzen, der Wissenschaftsbetrieb erwies sich als unfähig, aus Fehlern zu lernen.

Bezweifeln Sie etwa den Sachverstand?

Wenzel: Die beteiligten staatlichen Großforschungseinrichtungen des Bundes, die Kernforschungszentren Karlsruhe und Jülich wie das Helmholtz-Zentrum München, unterwarfen und unterwerfen sich politischen Kriterien, also dem Gegenteil von Wissenschaft. Das hat schon Ende der 50er-Jahre begonnen, als die Atomenergie von der Politik forciert wurde mit der Heilserwartung von billiger Energie in beliebiger Menge. Und damals ist auch die Kumpanei von Politik und Elektrizitätswirtschaft entstanden, die bis heute durchträgt. Zur Erinnerung: Die Asse diente bereits als Entsorgungsvorsorgenachweis für den Betrieb deutscher Atomkraftwerke, so wie das heute auch für Gorleben gilt.

Aber warum Kumpanei?

Wenzel: Ja, und im Zentrum stand dabei stets die Ministerialbürokratie. Ich bin in diesen Ausschuss gegangen mit dem Verdacht, im Zentrum der Fehlentwicklung stehe die Wissenschaft. Nach anderthalb Jahren und unzähligen Vernehmungen aber ist für mich glasklar: Die Spinne im Netz war und ist die Ministerialbürokratie, die sich immer wieder schützend vor die Atomindustrie gestellt hat. Diverse Schriftwechsel belegen, dass es immer darum ging, die Asse-Problematik klein zu halten, um einen öffentlichen Aufschrei und Widerstand gegen die künftige Nutzung der Kernenergie zu vermeiden.

Energiepolitik ist doch nicht Kumpanei?

Wenzel: Ein Beispiel für viele: Gerald Hennenhöfer war bis 1998 Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium, verdiente dann nach dem Regierungswechsel sein Geld bei einem Atomstromkonzern und wurde im vergangenen Jahr wieder vom neuen CDU-Umweltminister Norbert Röttgen als Chef der Abteilung Reaktorsicherheit installiert. Die Bundesregierung macht den Bock zum Gärtner.

Aber jede Regierung braucht Fachleute...

Wenzel: Wir wissen von vertraulichen Kamingesprächen zwischen den Spitzen der Bundesregierung und den Atomstromkonzernen. Wir stehen fassungslos davor, dass konservative Bundesregierungen entgegen Forderungen des Bundesrechnungshofes die Atomindustrie nicht an Kosten der Atomforschung in der Asse beteiligten. Auch das ist Kumpanei, und deswegen wird dieser Untersuchungsausschuss das Kanzleramt auf dem Gerichtswege zwingen, die entsprechenden Akten rauszurücken.

Was ist Ihr Fazit?

Wenzel: Politik geht gefährlich in die Irre, verrennt sich, wenn es keine Kontrollmechanismen gibt. Die Asse-Dramatik ist die direkte Folge davon. Für mich ist klar: Die meisten Fehler, die passiert sind, wären nicht passiert, wenn Politik, Industrie, Ministerialbürokratie und Wissenschaft nicht systematisch die Öffentlichkeit ausgeschlossen hätten.